Viktor Orbáns Sorge um die Roma
Politik der Regierungspartei FIDESZ stellt Ungarns Integrationsbemühungen in Frage
Die Situation ist mehr als skurril. Viktor Orbáns Vorgänger als Regierungschef, Gordon Bajnai, hatte trotz seines knallharten Sparkurses mit Hilfe der EU ein spezielles Programm für Roma-Akademiker ins Leben gerufen. 360 000 Euro wurden bereit gestellt, um dieser Gruppe größere Chancen zur Beschäftigung in der staatlichen Verwaltung zu eröffnen. Innerhalb kurzer Zeit, bis zum Regierungswechsel im Vorjahr, erhielten tatsächlich 70 junge Roma einen Posten. Doch jetzt wurde bekannt, dass der überwiegenden Zahl dieser diplomierten Roma nach dem Wahlsieg der Orbán-Partei FIDESZ Zwangsurlaub verordnet wurde. Sie bekommen zwar weiterhin ihr Gehalt, dürfen aber nicht mehr arbeiten und haben demzufolge auch keine Möglichkeit zur beruflichen Entwicklung.
Die linksliberale Tageszeitung »Népszabadság« bemühte sich um Interviews mit mehreren Betroffenen, doch aus Furcht war niemand unter den jungen Männern und Frauen bereit, sich öffentlich zu äußern. In einer ganz und gar von der neuen Macht durchdrungenen Atmosphäre wollen Angehörige der meistgehassten Minderheit Ungarns offenkundig keinen neuen Konflikt schüren.
Den sozialistischen Politiker László Teleki, der unter Gordon Bajnai Regierungsbeauftragter für Roma-Angelegenheiten war, verwundert das nicht. Die neuen Machthaber, so wurde Teleki von »Népszabadság« zitiert, hätten in ihrer kurzen Regierungszeit auch im Bereich der öffentlichen Stiftungen für Roma-Angelegenheiten verheerend gewirkt: Etliche Roma seien durch neue Bestimmungen aus den öffentlichen Arbeitsprogrammen ausgeschlossen worden, das Rechtshilfenetzwerk gegen Diskriminierung wurde abgeschafft. Aus der Regierung verlautete dazu, wie neuerdings üblich, nur knapp: »Das Programm der sozialistischen Regierung hat die Hoffnungen, die darin gesetzt wurden, nicht erfüllt.« In Kürze werde jedoch ein neues »Stipendienprogramm« aufgelegt.
Auch die einzige Mittelschule der ungarischen Roma, das Gandhi-Gymnasium im südungarischen Pécs – der europäischen Kulturhauptstadt 2010 – wird aufgelöst. Das Gymnasium fördert jugendliche Talente aus dem Kreis der Roma und gehört zu den erfolgreichsten ungarischen Mittelschulen: 60 Prozent der Schüler legten erfolgreich die Aufnahmeprüfungen für Universitäten ab, auch in den schwierigsten Fächern. Die Schule wird von einer überwiegend staatlichen Stiftung geführt. Die aber wird jetzt von der ungarischen Regierung mit der Begründung abgeschafft, das Niveau des Unterrichts sei nicht zufriedenstellend. Statt der bisherigen Stiftung wird eine nicht näher definierte Non-Profit-Gesellschaft geschaffen. Welche Prognosen sich aus diesem unverständlichen Schritt für die Zukunft der Integrationspolitik ableiten lassen, sei zunächst dahingestellt. Bekannt ist nur, dass der Chef der neuen Gesellschaft, wie im heutigen Ungarn nicht anders vorstellbar, aus den Reihen der Regierungspartei FIDESZ kommt.
Zweitrangig ist, ob diese Vorgänge »nur« den Rassismus zeigen, der in den FIDESZ-Reihen immer wieder zu Tage tritt, oder ob sie auch durch den Hass auf den »Erzfeind«, die Sozialistische Partei, und dessen Politik gelenkt werden. Brennend stellen sich dagegen gleich zwei Fragen: Wenn Orbán mit einem seiner drei Herzensanliegen für die EU-Ratspräsidentschaft so umgeht, was kann man sonst noch in diesem Halbjahr erwarten? Als Ungarns Regierungschef bei seinem stürmischen Auftritt vor dem EU-Parlament in der vergangenen Woche sein Programm vortrug, bezeichnete er die Verabschiedung einer »europäischen Roma-Strategie« erneut ausdrücklich als eine der wichtigsten Aufgaben der Gemeinschaft. Angesichts der unverkennbar restriktiven ungarischen Roma-Strategie fragt sich, was er damit eigentlich meint. Vermutlich nichts, was für die Roma günstig wäre.
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