Die meisten Klagen kommen aus Russland
Enormer Anstieg der Beschwerden beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
Straßburg (AFP/ND). Wie der Präsident des Gerichts, Jean-Paul Costa, am Donnerstag mitteilte, gingen im vergangenen Jahr rund 61 300 neue Beschwerden ein – das waren sieben Prozent mehr als im Jahr 2009. Damit sei der Berg der anhängigen Fälle um 17 Prozent auf fast 140 000 angewachsen, erläuterte der Franzose vor Journalisten. Insgesamt habe der Gerichtshof im vergangenen Jahr fast 1500 Urteile gefällt.
Deutschland wurde 26 Mal wegen Grundrechtsverletzungen gerügt. Für Aufsehen sorgte vor allem die Verurteilung der Bundesrepublik wegen nachträglich verhängter oder verlängerter Sicherungsverwahrung. Sie verpflichtet den deutschen Gesetzgeber, die diesbezüglichen Vorschriften zu überprüfen. Außerdem rügten die Straßburger Richter Deutschland unter anderem wegen der Kündigung eines katholischen Organisten nach einem Ehebruch.
Die mit Abstand meisten Klagen kamen auch 2010 aus Russland: Mehr als 14 300 Bürger beschwerten sich in Straßburg über Grundrechtsverletzungen durch Moskau. Damit sind nun rund 40 000 Klagen gegen Russland anhängig. Im vergangenen Jahr verurteilte der Straßburger Gerichtshof Moskau 217 Mal wegen zum Teil schwerster Menschenrechtsverletzungen – etwa wegen der Verschleppung, Misshandlung und Ermordung von tschetschenischen Zivilisten.
An zweiter Stelle steht die Türkei mit 15 200 anhängigen Beschwerden, gefolgt von Rumänien (11 950), der Ukraine (10 450) und Italien (10 200).
Im laufenden Jahr wird mit Spannung die Entscheidung über die Beschwerde eines Witwers erwartet, dessen Frau in Deutschland vergeblich Sterbehilfe beantragt hatte. Außerdem soll sich der Gerichtshof abermals zu einer Klage der Prinzessin Caroline von Monaco gegen die Veröffentlichung von Paparazzi-Fotos in deutschen Zeitschriften äußern. Die Richter werden auch erneut entscheiden, ob die Präsenz von Kruzifixen in Klassenzimmern gegen das Erziehungsrecht der Eltern verstößt. In erster Instanz hatte der Gerichtshof dies bejaht und einer Mutter aus Italien Recht gegeben.
Noch mehr Arbeit dürfte dem Straßburger Gericht der mit dem Reformvertrag von Lissabon beschlossene Beitritt der EU zur Europäischen Menschenrechtskonvention bescheren. Damit können Bürger nun gegen mutmaßliche Grundrechtsverletzungen durch EU-Vorschriften klagen. Diese Fälle würden zunächst vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) der EU in Luxemburg geprüft, erläuterte Costa. Bei einer Abweisung durch den EuGH könnten Bürger dann vor den Straßburger Menschenrechtsgerichtshof ziehen.
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