Ghannouchi nun im Visier des Volkszorns
Proteste in Tunesien gehen trotz Umbildung der Übergangsregierung weiter
Tunis/Paris (Agenturen/ND). Die fortgesetzten Proteste der tunesischen Demonstranten richten sich gegen Ministerpräsident Mohammed Ghannouchi, der als einer von drei alten Gefolgsleuten des gestürzten Präsidenten Ben Ali in der Übergangsregierung verbleibt.
Mehr als 1000 Menschen forderten am Freitag vor dem provisorischen Regierungssitz in Tunis den Rücktritt von Ghannouchi. Die einflussreiche Gewerkschaft UGTT hat derweil signalisiert, dass sie den Premier nicht unterstützt, aber immerhin tolerieren würde.
Am Vortag hatten die meisten Vertreter der alten Garde nach tagelangen Protesten die Übergangsregierung verlassen. Schlüsselressorts wie Verteidigung, Inneres, Äußeres und Finanzen werden neu besetzt. Sie wurden bisher von Gefolgsleuten Ben Alis geleitet, die sich jetzt nur noch in untergeordneten Rollen im Industrie- und Planungsministerium finden.
Die Übergangsregierung soll das Land nach der Flucht des Ex-Präsidenten auf Neuwahlen vorbereiten. Gegen die Beteiligung der alten Getreuen aus Ben Alis Machtapparat an der Regierung hatte es tagelang zahlreiche Proteste im Land gegeben.
Unterdessen wird für die ins Exil geflohene Familie Ben Alis die Luft immer dünner. Kanada will seinen Angehörigen kein Asyl gewähren. »Sie sind nicht willkommen. Lassen Sie es mich ganz klar sagen: Wir würden sie nicht hier in unserem Land begrüßen«, zitierte die »Montreal Gazette« den kanadischen Premierminister Stephen Harper. Kanada unterstütze auch die »demokratische Bewegung« in Ägypten voll und ganz, sagte Harper nach einem Treffen mit dem marokkanischen Regierungschef Abbas al-Fassi. Der kanadische Regierungschef betonte, er sei unglücklich, dass Ben Alis Schwager Belhassen Trabelsi bereits in Kanada sei. Der Milliardär ist in Montreal mit seiner Frau, vier Kindern und einer Angestellten.
Ottawa verfolge das mit Unmut, sagte Harper. »Kanada wird alle zur Verfügung stehenden Mittel nutzen, um mit der internationalen Gemeinschaft bei der Auseinandersetzung mit dem früheren Regime zu kooperieren.« Kanada liege zwar ein Ersuchen von Interpol vor, die Aufenthaltsorte von Ben Alis Familie festzustellen. Das bedeute aber nicht automatisch einen Haftbefehl.
Der frühere französische Widerstandskämpfer gegen die Nazis Stéphane Hessel betonte im Deutschlandradio Kultur, nach dem Volksaufstand in Tunesien müsse der Widerstand nun in demokratischen Strukturen münden. Es sei gefährlich, wenn man sich nur empöre und danach alles laufen ließe. »Es sieht so aus, als sei gerade in Tunesien der Widerstand jetzt mächtig«, sagte der frühere UNO-Diplomat. »Aber wie weit wird er es aushalten, das ist eben die Frage.«
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