Der späte Verweigerer

Jan gehört zu den letzten Wehrpflichtigen. Anfang des Jahres wurde er einberufen. Doch nach drei Tagen war klar: Er möchte raus

  • Felix Werdermann
  • Lesedauer: 6 Min.

Die Autos parken in entgegengesetzter Richtung. Die beiden Fahrer lassen ihre Fenster runter. Sie könnten miteinander reden ohne auszusteigen, aber sie schweigen sich an. Und essen ihre Burger von McDonalds. Jan und Thomas* sind befreundet. Der Parkplatz ist leer, aus zehn Metern Entfernung leuchtet eine Laterne, das Autoradio ist so leise, dass es vom Rauschen der Hauptstraße übertönt wird. Dann muss Jan los. »Ich drücke dir die Daumen«, sagt Thomas. Sein Freund hat am heutigen Abend einen schweren Weg vor sich.

Jan ist 19 und wurde Anfang des Jahres zum Wehrdienst eingezogen. Im Sommer ist es mit der Wehrpflicht in Deutschland endgültig vorbei. Wer es darauf anlegt, braucht schon heute nicht mehr zur Bundeswehr. Unter den etwa 12 000 letzten Rekruten sind fast ausschließlich Freiwillige – wie Jan einer war. Inzwischen hat er seine Position geändert. Bereits nach drei Tagen wollte er wieder raus. Seitdem ist er KzH – Krank zu Hause. Doch morgen muss er wieder in der Kaserne sein. »Ich weiß nicht, was auf mich zukommt«, sagt er. Seine Angst lasse ihn schlecht schlafen, manchmal müsse er zittern.

Ruppige Vorgesetzte

Mit seinen Kameraden versteht er sich gut. Aber der Umgangston seiner Vorgesetzten, der mache ihm zu schaffen. »Der psychische Druck ist mir zu groß.« Klamotten auf DIN A4-Format falten, Spind einräumen, Betten machen – mit dem Zeitdruck kommt er nicht klar. Auch die meisten anderen hätten die Aufgaben nicht in der vorgegebenen Zeit geschafft, sagt Jan. Ähnlich ist es beim Abschreiben der Texte, die vom Beamer nur wenige Minuten an die Wand geworfen werden. Abends hat er die fehlenden Stellen dann bei seinen Kameraden abgeschrieben.

Der Druck, der raue Ton – dafür macht er seine Vorgesetzten verantwortlich: »Ich habe manchmal den Eindruck, dass die das extra machen.« Er sei in seinem Zug nicht der einzige, der die Armee wieder verlassen möchte. Anderen gehe es ähnlich.

Bei ihm zu Hause hat Jan diesen Stress nicht. Er sitzt am Küchentisch, man hört bloß das Ticken der Uhr an der Wand. Das Dorf in Niedersachsen, wo er mit seiner Familie wohnt, besteht aus zwei Dutzend Häusern, ohne Einkaufsladen. Während Jan seine Geschichte erzählt, verzieht er keine Miene. Mal zieht er die Schultern hoch, mal faltet er seine Hände, aber sein schmales Gesicht bewegt sich nicht. Einmal hat man kurz den Eindruck, dass sich seine Augen mit Tränen füllen. Als er über seine Familie erzählt.

»Meine Kindheit war nicht gerade rosig.« Seine Mutter ist gestorben, als er 16 Jahre alt war. Vorher hat sie ihn und seine ältere Schwester angeschrien und geschlagen. Zuwendung gab es nur vom Vater, doch der kam erst abends zwischen neun und zehn Uhr nach Hause. Als Jan älter war, ist er nach der Schule zu Kindern in der Nachbarschaft gegangen. Sie waren eine Art Ersatzfamilie, sagt er heute.

Der Traum vom Autos reparieren

Mit Thomas ist er seit damals befreundet. Mit vier anderen Jungs teilen sie ihre Begeisterung für Oldtimer-Trecker, haben sogar einen Verein gegründet. Sie alle schrauben und lackieren liebend gerne, bringen die alten Kisten wieder auf Vordermann. Neben Jans Haus stehen zwei Traktoren und ein Anhänger, den die Freunde zu einem Wohnwagen umgebaut haben. Darin wohnen sie, wenn sie an Wochenenden zu Treffen mit anderen Trecker-Fans fahren. Kinosessel, Kühlschrank, Waschbecken – alles mit dabei. Nur der Tisch und die Satellitenschüssel sind noch in der Garage, die zur Werkstatt umfunktioniert wurde. Hier verbringen die sechs Freunde ganze Abende.

Heute stehen Jan und Thomas nur zum Rauchen in der Garage. Es ist kühl, und so drücken sie schon nach kurzer Zeit ihre Gauloises aus. Das sind die Zigaretten, für die mit der ewigen Freiheit geworben wird.

Ganz anders als versprochen

Jan erhofft sich diese Freiheit von einem Blatt Papier, das er zusammengefaltet in der Hosentasche trägt: sein Antrag zur Kriegsdienstverweigerung. Vor einer Woche hat er ihn eingereicht, seitdem wartet er auf den Bescheid vom Bundesamt für Zivildienst. In dem Antrag schreibt Jan von »traumatischen Erlebnissen meiner Kindheit«, die ihn Tag für Tag einholten, aber auch vom »Gesetz der Nächstenliebe«, das über allem stehe. Streitigkeiten will er »gewaltfrei und im Dialog« lösen.

»Alles, was da drin steht, ist wahrheitsgemäß«, sagt Jan. Dass ihn seine christlichen Werte vorher nicht von der Armee abgehalten haben, erklärt er damit, dass er nicht nachgedacht habe und »darauf fixiert war, in die Werkstatt reinzukommen und zu schrauben«. Das war sein Traum: Autos reparieren bei der Bundeswehr. Nach seinem Hauptschulabschluss hat er eine Ausbildung zum Kfz-Mechatroniker gemacht, viereinhalb Jahre lang hat er in einer Autowerkstatt im Nachbarort gearbeitet. Von der Bundeswehr hatte er sich geregelte Arbeitszeiten und ein höheres Gehalt versprochen. Nun möchte er zurück zu seiner alten Autowerkstatt. Sein Chef sagt, er könne sofort wieder anfangen.

Mittlerweile hat sich Jans Bild von der Armee geändert, die Arbeit dort habe er sich »schönreden lassen von anderen Leuten«, sagt er heute. Zwei Bekannte arbeiten bei der Bundeswehr, sein Vater hat Wehrdienst geleistet. An der Berufsschule hat Jan einen Infostand der Armee besucht, war sogar bei einem Einzelgespräch, um sich über Berufschancen zu informieren. Er wollte sich für vier Jahre verpflichten lassen. Der Dienst an der Waffe sollte freiwillig sein, findet er. Daher begrüßt er auch die Abschaffung der Wehrpflicht.

Dennoch gehört er nun zu den letzten Rekruten, muss am Abend wieder zur Kaserne fahren. Bis zehn Uhr wird er hereingelassen. Um sieben setzt er sich ins Auto, atmet tief durch. Im Kofferraum ist seine schwarze Sporttasche verstaut – mit Klamotten, Rasierapparat und Zahnbürste. Sein Vater steht an der Tür und winkt ihm nach. Jan fährt los, »komplett mit Widerwillen«. 115 Kilometer Autobahn liegen vor ihm. Er trägt eine Lederjacke, mit dem Logo seines Oldtimer-Vereins. In der Kaserne fehlen ihm seine Freunde, hat er gemerkt. Während der Fahrt raucht er noch eine Zigarette, ein letzter Hauch von Freiheit.

Eine breite Zufahrtsstraße führt zu der Kaserne, die Gebäude links und rechts sind hell erleuchtet. Zwei junge Soldaten stehen hinter dem Tor. Jan steigt aus, reicht seinen Ausweis und den Einberufungsbescheid zur Kontrolle durch die Gitterstäbe. Dann setzt er sich wieder ans Lenkrad, hinter ihm warten bereits zwei Autos. Das Tor öffnet sich, Jan fährt auf das Gelände der Kaserne. Morgen früh um fünf muss er wieder antreten.

In drei Tagen wird er als Kriegsdienstverweigerer anerkannt sein.

*Namen geändert


Dienen und Verweigern

Nach mehr als 50 Jahren wird die Wehrpflicht ab Juli ausgesetzt. Am 3. Januar haben die letzten 12 150 jungen Männer ihren Zwangsdienst an der Waffe angetreten. Wie viele von ihnen inzwischen einen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung (KDV) gestellt haben, ist bei der Bundeswehr nicht zu erfahren. Die Zentralstelle KDV – eine Organisation, die Soldaten und Wehrpflichtige bei ihrer Verweigerung unterstützt – spricht von 50 Menschen, die sich gemeldet und einen Antrag gestellt hätten. Die meisten Anträge seien bereits bewilligt. In den letzten Jahren habe es pro Vierteljahr bei etwa 16 000 Einberufungen rund 1000 Verweigerer gegeben. Laut Bundeswehr ist es »relativ einfach«, bereits vor der Einberufung den Kriegsdienst zu verweigern. FW

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