Palästinenser hoffen auf Rückenwind
Aufstand in Ägypten begeistert die Bevölkerung
»Das Volk will den Sturz des Systems.« Die berühmte ägyptische Forderung war am vergangenen Sonnabend auch auf einem Protestmarsch in Palästina zu hören. Zwar sollten ägyptische Fahnen darauf hinweisen, dass damit die Regierung Mubarak gemeint war. »Aber allen war klar, dass unsere Rufe auch auf unsere eigene Regierung zielen«, sagte eine Teilnehmerin. Als gegen Ende des Marsches ein Trupp von etwa 50 Fatah-Angehörigen dazustieß, die ein Hoch auf Präsident Mahmud Abbas ausbrachten, »gingen alle nach Hause und die Fatah-Gruppe blieb alleine auf dem Platz.«
In Palästina gebe es drei Haltungen zum Aufstand in Ägypten, erläuterte die Aktivistin: »Ablehnung durch die Regierung in Ramallah, Vorsicht der Hamas in Gaza und stürmische Begeisterung der Bevölkerung«. Tatsächlich sagen viele: »Die Ägypter haben uns nach Jahrzehnten der Demütigung unseren Stolz als Araber wiedergegeben.« Die Leute sitzen vor dem Fernseher und wissen, dass eine Systemänderung in Ägypten weitreichende Folgen für Palästina und die ganze Region hätte.
Die Reaktion der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) in Ramallah war vorhersehbar. Präsident Abbas (Fatah-Bewegung) sicherte Husni Mubarak Unterstützung für »ägyptische Sicherheit und Stabilität« zu. Die kontrollierten Medien erwecken den Eindruck, als hätten sie vom Geschehen im Nachbarland kaum etwas mitbekommen. Und ein Jugendlicher, der über facebook eine Solidaritätskundgebung für Ägypten organisieren wollte, wurde flugs verhaftet. Offenbar will man Kritik nicht riskieren, solange das System Mubarak noch besteht, da es beispielsweise in den Verhandlungen mit der Hamas, den Machthabern im Gaza-Streifen, auf Seiten der Ramallah-Behörde steht. Selbst die von der PA finanziell abhängige säkulare Opposition, auch die politische Linke, verhielt sich zunächst zurückhaltend und zeigt ihre Solidarität mit dem ägyptischen Aufstand erst seit Mitte letzter Woche.
»Die PA ist, mit westlicher Hilfe, auf dem Weg zum Polizeistaat ohne Staat«, sagt der Menschenrechtsaktivist Mamduh al-Aker. Alle Regimes fürchten, dass Demonstrationen außer Kontrolle geraten könnten. Wie die ägyptische NDP ist auch die palästinensische Fatah nicht nur Bewegung oder Partei, sondern das System. Und wie in Ägypten sind auch hier politische, wirtschaftliche und militärische Interessen eng miteinander verknüpft, teils in Personalunion.
Das Unwohlsein über die Vorkommnisse in Ägypten eint die zerstrittenen Machthaber in Ramallah und Gaza. Auch im Gaza-Streifen wurden selbst zarte Ansätze für Solidaritätsbekundungen von der Hamas unterbunden. Obwohl sie spinnefeind ist mit Mubarak, Suleiman und Co., wird sie von den Entwicklungen am Nil nicht nur profitieren. Zwar ist davon auszugehen, dass jede andere ägyptische Regierung die Grenzen zum Gaza-Streifen öffnet. Danach wäre allerdings, so der palästinensische Journalist Hani al-Masri, mit einer israelischen Wiederbesetzung dieser Grenze zu rechnen. Al-Masri rechnet überhaupt mit zunehmendem militärischen Muskelspiel Israels, das »ägyptische Verhältnisse« nicht dulden will.
Darüber hinaus, das zeigt die ägyptische Bevölkerung deutlich, gibt es nun neben der islamistischen eine nicht-religiöse Alternative zur arabischen Diktatur. »Insgesamt werden wir von Veränderungen in Ägypten profitieren«, hofft ein Palästinenser aus Ramallah. »Die Regierung nach Mubarak definiert den ägyptisch-israelischen Friedensvertrag neu und stoppt die Erdgaslieferungen an Israel. Außerdem wird unsere Verhandlungsposition gegenüber Israel gestärkt.«
Es gibt aber auch solidarische Stimmen, die die Ägypter mahnen, aus der palästinensischen Erfahrung zu lernen. »Wollen Sie die politische Temperatur des Nahen Ostens messen, schauen Sie nach Ägypten«, schrieb der Managementberater Sam Bahour in der Tageszeitung »Guardian«, »interessieren Sie aber die Möglichkeiten zu ernsthafter, nachhaltiger Reform, blicken Sie nach Palästina!« Bahour geht es vor allem um ausländische Interessen und die lokalen Regimes, die diese Interessen umsetzen und Veränderungen verhindern. »Erst wenn die Völker des Nahen Ostens Reformen ernst nehmen und ihre Massenproteste zu anhaltenden, organisierten Bemühungen verwandeln, die alle gesellschaftlichen Aspekte aufgreifen«, wären sie erfolgreich. Bis dahin werde man noch viele ausländische und lokale Initiativen zur Verhinderung eines demokratischen Systems sehen. Im Westjordanland unterstützen USA und EU seit Jahren ein restriktives System und präsentieren diese Unterstützung als Demokratieförderung und Entwicklungshilfe.
Der Autor leitet das Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Ramallah
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