Halbzeit bei Mars 500 in Moskau

Teilnehmer eines Experiments unternehmen erste Schritte auf nachgestellter Oberfläche des Planeten

  • Irina Wolkowa, Moskau
  • Lesedauer: 3 Min.

Die drei Männer haben sichtbar Probleme. Eingepackt in schwere, strahlensichere Raumanzüge bewegen sie sich im Zeitlupentempo durch eine Landschaft, die wie die Kulisse zu einem Science-Fiction-Film aussieht. Rau, unwirtlich, bizarr. Urlaub möchte man hier nicht machen. Dennoch: ein Heer von Wissenschaftlern, Ingenieuren, Technikern, Grafikern und Landschaftsdesignern hat weder Anmut noch Mühe gespart, um die Plattform so herzurichten, wie die Menschheit sich nach derzeitigem Wissensstand den Mars vorstellt. 250 Tage würde mit der momentan verfügbaren Technik eine Reise von der Erde zum roten Planen dauern. Ein Traum, der noch in diesem Jahrhundert Wirklichkeit werden könnte. Um die damit verbundenen Risiken bis ins Detail auszuloten, haben die europäische Raumfahrtagentur ESA und deren russischer Partner – der Staatskonzern Roskosmos – nicht nur ein Stück Mars nachempfunden, sondern die ganze Reise simuliert.

Insgesamt sechs Probanden, ausgewählt aus mehreren tausend Bewerbern, ließen sich dazu am 3. Juli in ein virtuelles Raumschiff einsperren: Ein Container, der wie eine missglückte Kreuzung aus finnischer Trockensauna und einem ausgebauten Dachstuhl aussieht. Er steht mitten in Moskau, im Institut für Biomedizinische Probleme. Aber er ist total von der Umwelt abgeschottet und gibt den sechs Insassen – drei Russen, ein Italiener, ein Franzose und ein Chinese – daher das Gefühl, tatsächlich im Weltraum unterwegs zu ein. Simuliert wurde sogar das Umsteigen von drei Besatzungsmitgliedern in eine Landefähre, die letzten Samstag den Mars »erreichte«. Und der gestrige Ausflug ist nur einer von drei, die die Crew während ihres zehntägigen Aufenthalts auf dem roten Planeten zu absolvieren hat.

Dann beginnt der »Rückflug«. Er wird wie der Hinflug acht Monate dauern. Insgesamt 520 Tage werden die Männer dann – zusammengepfercht auf engstem Raum, unter sehr spartanischen Bedingungen und teilweise ohne sinnvolle Beschäftigung – miteinander verbracht haben. Genug, damit Wissenschaftler sich ein genaues Bild davon machen können, welche Gefahren bei einer echten Marsexpedition lauern. Eine Aufgabe, die real auf die nächste Generation zukommen könnte.

Immerhin beschrieb Vitali Lopota, der Chef des Konzerns »Energija«, der Raketen und Raumschiffe baut, schon im August 2010 in der Fachzeitschrift »Poljot« mit viel Liebe zum Detail einen bemannten interplanetaren Expeditionskomplex, der bereits 2040 auf dem Mars seine Tätigkeit aufnehmen soll. Für Russland ein Prestigeprojekt. Auch, weil die Nation, die vor fast 50 Jahren mit Juri Gagarin den ersten Menschen ins Weltall schickte, bis heue nicht vergessen hat, dass Erzkonkurrent USA ihr beim ersten Mondspaziergang zuvorkam. Eine Schmach, die mit einer bemannten Mission zum Mars definitiv aus dem Gedächtnis der Menschheit getilgt werden soll.

Die medizinischen und logistischen Herausforderungen sind jedoch gewaltig. Zwar deutet bisher nichts auf einen Kapselkoller hin wie bei der ersten Simulation vor zehn Jahren. Sie musste abgebrochen werden: Von Langeweile geplagt, hatten die Probanden sich hoffnungslos zerstritten und sogar geprügelt. Bevor das 520-Tage-Experiment anlief, hatten sich daher schon im März 2009 sechs Freiwillige – darunter der Deutsche Oliver Knickel – zu einer 105-tägigen Isolation in den Container begeben. Und aus Schaden klug geworden, hatten ESA und Roskosmos damals wie heute dafür gesorgt, dass niemand müßigging.

Gut zu tun haben die sechs allein schon mit den vielen Experimenten. Jede Körperfunktion wird genauestens studiert und analysiert: Hirnströme, Pulsfrequenz, Stress-Hormone im Blut. Und die sind noch immer häufig grenzwertig. Klagen gibt es vor allem über das Essen. Weil es keine Auswahl gibt und der Salzgehalt allmählich von den in Deutschland üblichen zwölf Gramm pro Tag auf die von der Weltgesundheitsorganisation empfohlenen sechs Gramm heruntergefahren wurde. Die Folge: Bei allen sank der Blutdruck signifikant, damit gilt der Zusammenhang zwischen Hypertonie und zu salzigem Essen als beweisen.

Als belastend empfinden die »Marsmenschen« auch den stark eingeschränkten Kontakt mit der Außenwelt. Der Austausch von E-Mails und Funksprüchen vollzieht sich so quälend langsam wie bei einem wirklichen Flug durchs All. Bis eine Botschaft ihren Adressaten erreicht, vergehen derzeit zwanzig Minuten.

App »nd.Digital«

In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!