König der Zitate
Guttenberg I
Im Seminar lernt der Student schon früh einen Spottvers: »Wissenschaft, sie ist und bleibt, was einer ab vom anderen schreibt!« In der Tat bestehen die meisten wissenschaftlichen Texte aus Zitaten, solchen, die deklariert sind, und anderen, die mehr oder weniger umgeformt und auf diesem Weg zu etwas Eigenem gemacht werden. Umso wichtiger ist die Würdigung aller Autoren, deren Gedanken die Kompilation ermöglicht haben. Wirklich originelle Texte, die über lange Passagen hin ausschließlich bisher noch nicht Geschriebenes formulieren, finden sich selten. Die Debatte um die Plagiate in der Doktorarbeit des Verteidigungsministers erinnert an die Auseinandersetzungen um den Roman »Axolotl Roadkill« von Helene Hegemann: Wäre von Guttenberg ein Hinterbänkler geblieben, hätte Helene Hegemann keinen Bestseller geschrieben – niemand hätte sich darum gekümmert, wie sich in diesen Texten Eigenes und Fremdes mischen.
Bei aller berechtigten Empörung über den Diebstahl geistigen Eigentums: Die Welt des Schreibens hat sich verändert, seit fast alle Autoren einen Computer benutzen. Was gefällt, wird gespeichert und in Festplatte oder USB-Stick abgelegt. Das sind technische Dinge, die emotional funktionieren wie eine Erweiterung des eigenen Ich. Sie sind auch eine enorme Verführung für jene Bereiche der Persönlichkeit, die der Psychologe Narzissmus nennt und in denen die Fantasie siedelt, der Größte, der Einzige zu sein. Auf diese Fantasie spielt Polykrates, der Tyrann von Samos, in Schillers Ballade an: »Dies alles ist mir untertänig!«
Was einmal als Text in meinem Programm ist, gehört subjektiv mir, schließlich habe ich es gefunden und gespeichert. Der Mensch hat eine natürliche Neigung zum Polykratismus. Wenn ein solcher Polykrates aus seinen gespeicherten Dateien eine »eigene« Arbeit macht, wird alles, was er an passender Stelle in sein Gedankengebäude einfügt, zu seiner geistigen Leistung. Hegemann und von Guttenberg haben eben gerade nicht Wort für Wort abgeschrieben. Sie haben eine Collage gefertigt, haben markiert und kopiert. Früher veränderte sich ein fremder Text wie von selbst, wenn der Autor sich zuerst bei seiner Lektüre Stichworte und Zitate notierte, und später die Früchte seiner Vorbereitung von der Karteikarte übernahm. Heute ist alles schon da, steht fertig im Textregal, wartet, vom ordnenden Ich des Autors an seinen Platz gestellt zu werden. Wer heute mehrere Bücher eines Autors kurz nacheinander liest, entdeckt gar nicht selten Selbstplagiate.
Am Computer muss der Autor ein erheblich höheres Maß an Disziplin und Selbstkritik aufbringen, um das Patchwork, das er da gefertigt hat, transparent zu machen. Fremde Federn als eigene auszugeben sind vor allem jene versucht, die es gewohnt sind, Ehrgeiz mit Charme zu tarnen und sich selbst mit Haut und Haaren dem Publikum zu verschreiben. Wenn mich jemand kopieren würde, mag sich ein solcher Narziss sagen, ICH würde mich geschmeichelt fühlen und nicht HALTET DEN DIEB schreien, wie das meine Neider tun!
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