Bloß weg von der Tristesse
In Leipzig entdecken arbeitslose Menschen im Chor »La Bohème« die Lust am Singen
Es gibt fast 300 Chöre allein in Sachsen. Aber dieser ist anders. Karin Schaknat findet gut, dass er für Arbeitslose ist, aber auch, dass alle bei null anfangen. »Ich hätte mich nicht getraut, in einen Chor zu gehen, wo ich neu bin und alle schon singen können,« sagt sie. Als Stefan Kugler vom Leipziger Chorverband die Idee zu einem Chor speziell mit Arbeitslosen hatte, stieß er auf viel Begeisterung. Die »Aktion Mensch« und das Kulturamt der Stadt Leipzig sagten finanzielle Förderung zu. Im August 2009 begannen die Proben.
Ina Heide hatte es in der Zeitung gelesen: »In einem der Anzeigenblätter, die Leipziger Volkszeitung kann ich mir nicht leisten.« Die 72-Jährige ist Rentnerin, war davor aber viele Jahre arbeitslos: »Genau so etwas wie diesen Chor habe ich mir immer gewünscht.« Wie die meisten anderen auch hatte sie zuvor noch nie gesungen – außer im Kinderchor. Aber sie kann Klavier spielen. Die Notenkenntnisse helfen ihr jetzt bei der Alt-Stimme: »Wissen Sie, da muss ich gegen den Melodieverlauf singen, das ist schwer.«
An diesem Donnerstag proben sie noch einmal Udo Jürgens »Ich war noch niemals in New York«, das sie auch kürzlich im Leipziger Rathaus sangen. Konzerte dieser Art empfinden sie als »große Ehre«. Ida Heide war im Vorfeld ihres ersten Auftritts ganz bange, daran erinnert sie sich noch gut: »Die Auftritte geben mir und den anderen aber viel Selbstvertrauen.« Und es gab bisher schon viele, nicht nur in Leipzig, zum Beispiel im Gewandhaus, sondern auch beim Ökumenischen Kirchentag in München.
Die »La Bohème«-Sänger üben zweimal die Woche, je zwei Stunden. Neu ist, dass jedes zweite Mal am späten Nachmittag geprobt wird (sonst vormittags), denn etliche der ursprünglich Arbeitslosen haben einen Job gefunden oder sie sind in einer Fördermaßnahme der Agentur für Arbeit. Altersmäßig sind sie bunt gemischt, die meisten sind ohne Job, aber es gibt auch junge Mütter, Minijobber, Selbstständige und Rentner. Dass die meisten arbeitslos sind, empfinden sie als Vorteil: Das macht die Gespräche einfacher. Pjotr Selend: »Man lernt sich leichter kennen.«
Für die meisten hier ist es wichtig, den Tag zu strukturieren und »weg zu sein von der Glotze«, wie Pjotr Selend sagt. Der studierte Biologe ist seit der Wende arbeitslos und ein bisschen stolz, einer der rar gesäten Männer im Chor zu sein: »Die werden in jedem Chor mit Goldstaub gehandelt.« Wie die anderen auch schwärmt er vom erfahrenen Chorleiter Michael Reuter, einem promovierten Musikwissenschaftler. Sie wissen, dass der 67-jährige Rentner früher an der Leipziger Hochschule für Musik gearbeitet hat und ein Großer in seinem Metier ist. Aber das ist es nicht allein. Reuter führt die Sängerinnen und Sänger mit viel Diplomatie, er stellt keinen bloß. Niemand singt falsch, höchstens gibt es »hier in dieser Ecke« einen schiefen Ton. Der- oder diejenige weiß dann schon Bescheid.
Von Anfang an erregte der Chor viel Medieninteresse. Damals wollte allerdings nicht jeder mit aufs Foto, die Nachbarn könnten ja so von der Arbeitslosigkeit erfahren. Deshalb haben sie sich auch den Namen »Bohème« gegeben. Bloß weg von der Tristesse. Der Name ist eine Hommage an die arbeitslosen Künstler des 19. und 20. Jahrhunderts – mit ihrer leidenschaftlichen Hingabe an die Kunst, selbst wenn sie nicht zum Broterwerb reicht.
Inzwischen sind sie selbstbewusster geworden, sagt Chormanagerin Sarie Teichfischer. Alle sprechen jetzt vom Erwerbslosenchor. Kein Problem. Allerdings war die Zukunft des etwa 45 Mitglieder starken Chores lange unklar. Inzwischen haben sie sich einem bereits bestehenden Verein angeschlossen, das hat verlässliche finanzielle Bedingungen geschaffen. Jedes Mitglied leistet einen geringen Mitgliedsbeitrag. »La Bohème« ist jedoch auf Sponsoren angewiesen, um die jährlich anfallenden 6000 Euro für Raummieten, Noten und den Chorleiter zu bezahlen.
»Guckt mal alle ein bisschen nach vorn, dann klappt das auch!«, fordert »Dr. Michael«. Und siehe da, jetzt treffen sie die Töne von »Ich war noch niemals in New York«. »Aber Eure Hüfte ist ganz steif!« Da muss Bewegung rein. »Mit Schmackes« sollen sie singen. Und die Begleitstimmen müssen sich »ein bisschen zarter um die Männer drum herumranken«. Und siehe da: Sie kommen immer besser rein in die Musik. Die Füße wippen, die Blicke gehen zum Chorleiter, jetzt stimmt plötzlich alles. Und es klingt verdammt gut. Genau dafür singt er, sagt Pjotr Selend, »für dieses Gänsehautgefühl«.
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