Die offiziellen Strukturen funktionieren nicht mehr

Udo Steinbach: Stammeschefs spielen wieder stärkere Rolle

  • Lesedauer: 5 Min.
Prof. Dr. Udo Steinbach war bis 2007 Direktor des GIGA-Instituts für Nahoststudien Hamburg. Gegenwärtig lehrt er am Centrum für Nah- und Mitteloststudien an der Philipps-Universität Marburg. Über Machtstrukturen und Einflusssphären im Libyen des einstigen Revolutionsführers Muammar al-Gaddafi, Kräfteverhältnisse und Perspektiven sprach mit dem Islamkundler und Orientalisten für Neues Deutschland Roland Etzel.

ND: Herr Steinbach, warum sind die Experten so ratlos, wenn sie die Kräftekonstellation in Libyen analysieren sollen?
Steinbach: Weil wir aus Libyen seit Jahrzehnten eigentlich kaum wirklich verlässliche Informationen hatten. Eine relativ freie Presse gab es nicht, Journalisten hatten kaum Zugang, und was das Regime von sich gegeben hat, das war nicht mehr als eben Selbstdarstellung.

Wie kann man sich jetzt das Machtgefüge im Land vorstellen? Welche Rolle spielen zum Beispiel die legalen Strukturen, die so genannten Volkskomitees, und welche informellen Machtstrukturen prägen das tägliche Leben?
Die offiziellen Machtstrukturen der Volkskomitees spielen in der gegenwärtigen Situation keine Rolle mehr. Das System hängt an Gaddafi und an seiner Entschlossenheit, diesen Aufstand niederzuschlagen. Die Volkskomitees repräsentieren jenen Teil der Bevölkerung, der an dem System partizipiert hat. Die Anhänger und Mitglieder der Volkskomitees werden also nicht gerade unter den Demonstranten zu suchen sein. Aber mit Blick auf den Machterhalt und mit Blick auf die künftigen politischen Strukturen spielen sie keine Rolle.

Wenn wir über informelle Strukturen sprechen, dann werden in der Tat wieder alte Konstellationen sichtbar, insbesondere die tribalen Strukturen, von denen Libyen bis in die 70er Jahre weitgehend gekennzeichnet war. Die Stammesoberhäupter beginnen wieder, eine Rolle zu spielen. Einer hat sogar damit gedroht, den Ölexport zu verhindern.

Das zweite informelle Strukturelement sind die religiösen Orden, die seit dem 19. Jahrhundert in Teilen Libyens Bestand hatten, insbesondere im Osten des Landes. Und diese Orden und Bruderschaften, die eher einen mystischen als einen militanten Charakter haben, treten wieder stärker hervor. Ich denke, wenn wir über die Zukunft sprechen, sprechen wir über religiöse Strukturen plus Stammeselemente plus Elemente einer mittlerweile auch in Libyen herangewachsenen, aus dem Ausland kommenden Elite.

Die libysche Führung, eigentlich Gaddafi allein, hat mit der Grünen Fibel dem Islam eine weltweite Verbreitung verschaffen wollen. Trotzdem gibt es Proteststimmen aus den Reihen konservativer islamischer Gelehrter. Wie muss man das einschätzen?
In der Tat, Gaddafi hat gewisse Elemente des Islam – und zwar ausschließlich des Korans – für seine populistische Theorie gebraucht. Er hat im Grunde den Koran auf seine Weise interpretiert und es jedem freigestellt, im Lichte des Grünen Buches – der dritten allgemeinen Theorie, wie er es selbst genannt hat – den Koran zu interpretieren.

Die etablierten religiösen Strukturen haben diese Form von Willkür, den Islam in den Dienst einer Diktatur zu stellen, schon von einem sehr frühen Zeitpunkt an, den 70er Jahren, nicht mitgemacht. Sie wandten sich von Gaddafi ab. Eine Reihe von Elementen aus dem konservativen Lager sind ins islamistische Lager übergewandert, haben ihn also militant bekämpft, und er hat sie unterdrückt. Ein weiterer Teil der religiösen Strukturen, nämlich Orden und Bruderschaften, hat sich einfach zurückgezogen.

In der Vergangenheit sollen die Stämme oder ihre Führer sehr gut an den Gewinnen aus dem Ölverkauf beteiligt gewesen sein. Gaddafi konnte sich damit Wohlverhalten erkaufen. Hat sich daran in jüngerer Zeit etwas geändert?
Ja, daran hat sich natürlich etwas verändert durch die Art und Weise, wie diese Unruhe, die von Ägypten nach Libyen hinübergeschwappt ist, bekämpft worden ist. Und in dem Augenblick, da Angehörige eines Stammes Opfer von Regierungsgewalt geworden sind, tritt die Loyalität des Stammes gegenüber diesen Angehörigen wieder deutlicher hervor. Und es sind zahlreiche Protestierende Opfer der Repression geworden. Jeder von ihnen ist einem bestimmten Stamm zuzuordnen. Und jetzt können die betroffenen Stämme nicht anders, wollen auch gar nicht anders, als der Regierung zu drohen, von ihr abzufallen bzw. sie über die Erdölförderung in ihrem Gebiet unter Druck zu setzen.

Konnte man sagen, dass es vorher Stämme gab, die für Gaddafi waren, und andere, die sich zu ihm in Opposition befanden?
Sicherlich, nach der Revolution von 1969 gab es eine Reihe von Stämmen, die Gaddafi sozusagen mitgebracht hat, als er die Macht in Libyen übernahm. Gaddafi selber ist ein Angehöriger des Stammes gleichen Namens. Dann hat er den Versuch gemacht, die Stämme sozusagen aufzukaufen, insbesondere die Stammesscheichs. Und die wiederum hatten damit ihrerseits Möglichkeiten, die Loyalität ihrer eigenen Stammesmitglieder zu erkaufen, weil sie vom Staat für bestimmte Loyalitätsverhältnisse Geld bekamen.

So gesehen kann man sagen, dass bis weit in die Gegenwart hinein die Masse der Stämme aufgekauft worden ist. Hier und da hat es bei einzelnen Schritten der Regierung Gegenwehr gegeben, die aber in der Regel brutal unterdrückt worden ist. Aber das war kein flächendeckender Widerstand wie jetzt.

Das Königreich Libyen wurde einst aus den drei Regionen Cyrenaika, Tripolitanien und Fezzan gebildet. Kann es sein, dass da alte Rivalitäten wieder aufgebrochen sind?
Das halte ich für kaum wahrscheinlich. Gaddafi verstand sich ja als libyscher oder gar als arabischer Nationalist. Als solcher hat er allerdings nie reüssiert. Die anderen Araber haben ihn nie akzeptiert, so wie sie ihn auch jetzt schon wieder aus der Arabischen Liga ausgeschlossen haben.

Auf wen kann sich Gaddafi gegenwärtig in seinem Land noch stützen?
Nur noch auf Teile der Armee.

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