Entfesselung des Skandals

Die Situationisten sind die geistigen Vorläufer des Unsichtbaren Komitees

  • Axel Berger
  • Lesedauer: 3 Min.
Mit der Rezeption des »kommenden Aufstands« kehrt auch sein Vorbild, der Situationismus, in die Wahrnehmung zurück. Dieser hatte die Praxis linker Gruppen tatsächlich beeinflusst.

Vor 50 Jahren nahm sich eine kleine Gruppe Intellektueller vor, immer »vollständigere Skandale zu entfesseln, indem wir aus der heimlichen Freiheit hinausgehen, die sich unter dem prunkvollen gesellschaftlichen Bauwerk der toten Zeit fast überall behauptet«. In einer späteren Nummer ihrer mit der Gruppe namentlich identischen Zeitung Situationistische Internationale (SI) präzisierten sie das Ziel solcher Skandale: Es gehe um nichts weniger als eine Mobilisierung zur Zerstörung der »kapitalistischen Totalität« (Georg Lukács) und letztlich die Ergreifung der revolutionären Macht, einer »Macht ohne Vermittlung, die die direkte Aktion aller enthält«, wie die aus verschiedenen Ländern Europas und den USA stammenden Mitglieder hinzufügten.

Ihre Theorien und Analysen kehren derzeit wieder in die Debatten der radikalen Linken zurück. Zum Teil folgte diese neue Aufmerksamkeit der Faszination für das Manifest des Unsichtbaren Komitees, dessen subjektivistischer Aufruf zum Aufstand in den Feuilletons ein wohliges Schaudern ausgelöst hat. Explizite Verweise auf eine historische Ahnengalerie fehlen zwar in der Schrift »Der kommende Aufstand«. Der Bezug zum Situationismus ist trotzdem eindeutig, wie Klaus Bittermann zu Recht hervorhob.

Für den Verleger der Schriften von Guy Debord, des wichtigsten Theoretikers der SI, knüpften die unbekannten Autoren »einfach nur an die radikale Unversöhnlichkeit der Situationisten an, für die es keine Verständigung mit dieser Welt gab«. Im Gegensatz zur SI, deren Schrift »Das Elend im Studentenmilieu« von einer Straßburger Gruppe bei studentischen Wahlen tatsächlich aufgenommen wurde, sind reale Bezugnahmen auf den »kommenden Aufstand« bisher ausgeblieben.

Das gewachsene Interesse für die Situationisten schlägt sich aber vor allem auf dem Buchmarkt nieder. Mit der Berliner Zeitschrift »Kosmoprolet« existiert ein Periodikum, das klare Bezüge zur SI aufweist. Mit den Werken Simon Fords und einer in der Reihe theorie.org erschienenen Einführung in die »Situationistische Revolutionstheorie« sind in den letzten Jahren gleich zwei Monographien vorgelegt worden. Im Jahr 2008 sah sich die Edition Nautilus veranlasst, ihre Anthologie von Texten der SI unter dem Titel »Der Beginn einer Epoche« wieder aufzulegen.

Nun hat der in Rom lehrende Philosoph Mario Perniola in einem kurzen Bändchen den bislang konsistentesten Blick auf diese Strömung geworfen. Er stand in den 60er Jahren in engem Kontakt zu den Mannen um Debord und setzt sich in seinem Buch durchaus kritisch mit der SI auseinander. Die rund 70 Mitglieder stammten allesamt aus der Künstlerszene, und laut Perniola habe ihr Auftreten immer etwas von »Sektengehabe« an sich gehabt. Zugleich hebt er aber die Bedeutung der Gruppe für die Modernisierung des Marxismus hervor. Die SI habe »den größten theoretischen Beitrag zur kritischen Theorie des (modernen) Kapitalismus« erarbeitet.

Vor allem der Fokus auf die Entfremdung in den modernen Industriegesellschaften eint SI und »Unsichtbares Komitee«. Die Garantie, nicht zu verhungern, werde mit der Gefahr erkauft, vor Langeweile zu sterben, heißt es in situationistischer Diktion. Allerdings vertraute die SI weniger auf die Kraft bewusstloser Aufstände von ausgeschlossenen Teilen der Gesellschaft oder auf das Potenzial von Kommunen, die sich außerhalb der Gesellschaft verorten. Vielmehr setzte die SI auf die Formierung von Arbeiterräten. Diese Differenz findet sich auch in den unterschiedlichen Hoffnungen auf den Skandal wieder: Hier die »radikale Subjektivität« des Proletariats, dort die militarisierte Auseinandersetzung mit der Staatsmacht. Es bleibt zu hoffen, dass sich kommende Aufstände am Original orientieren werden.

Mario Perniola: Die Situationisten. Prophetie der »Gesellschaft des Spektakels«. Wien/Berlin 2011. 181 Seiten, 19,90 Euro.

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