Besorgter Spaziergang
Spontane Demonstration im Wendland / Gorlebener Gebet erstmals mit Muslimen
»Bis Sonntag um eins!«. Ein vertrauter Gruß unter jenen Atomkaftgegnern, die sich seit vielen Jahren allsonntäglich Punkt 13 Uhr zu einem Spaziergang rund um jenes Gelände treffen, unter dem der Gorlebener Salzstock auf seine Eignung als Endlager für hoch radioaktiven Müll untersucht wird. Mal sind es 30, mal 40 Frauen und Männer, die mit ihrem Rundgang erinnern wollen: Es ist längst durch Experten belegt, dass Gorleben als Endlagerstätte ungeeignet ist. Der gestrige Spaziergang war schon vor Wochen als etwas Besonderes angekündigt worden: Nach dem Spaziergang sollte – wie stets um 14 Uhr – das ökumenische »Gorlebener Gebet« beginnen – zum ersten Mal von Muslimen gestaltet. Doch dieses von vielen begrüßte Ereignis wird überschattet von der atomaren Katastrophe in Japan. »Es werden morgen wohl etwas mehr Leute kommen als sonst«, hatte Wolfgang Ehmke, Sprecher der Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg am Samstag gesagt, als die Meldungen aus Japan immer bedrohlicher wurden. Via Internet, Telefonkette und Mund-zu-Mund-Propaganda verbreitete sich die Nachricht: Morgen um 13 Uhr Mahnwache in Gorleben!
Schon gegen 12 Uhr zeichnet sich am Sonntag ab, dass sich in Gorleben mehr tun wird als üblich. Immer mehr Autos säumen die Zufahrtsstraßen zum atomaren Zwischenlager, zum Endlager-Bergwerk. Immer mehr Radler treffen ein. Transparente werden entrollt, eine Trommelgruppe greift zu ihren Instrumenten. Dumpfes Gebrumm wird immer lauter: Über 30 Traktoren rollen an, gesteuert von Mitgliedern der Bäuerlichen Notgemeinschaft; sie zählt zu den aktivsten Anti-Atomkraftgruppen des Wendlands.
Um 13 Uhr steht fest, dass tatsächlich »etwas« mehr zum Spaziergang gekommen sind: rund 500 Menschen. »Ich glaube, sie alle hat ein Riesenschrecken erfasst wegen der Geschehnisse in Japan – ein Schrecken wegen der Folgen menschlicher Vermessenheit«, so Wolfgang Ehmke.
Es ist kein Tag der großen Reden. Im Vordergrund steht das Gespräch zwischen den »Spaziergängern«, die Sorge um die Menschen in Japan, die Angst vor ähnlichen Katastrophen im eigenen Land. Unberechtigt ist sie nicht, meint Kurt Herzog, umweltpolitischer Sprecher der Linksfraktion im niedersächsischen Landtag. Auch er ist unter denen, die das Erkundungsbergwerk umrunden. »Grundsätzlich kann so etwas in Deutschland auch geschehen«, sagt Herzog, »wenn der Strom ausfällt und dann auch noch alle Ersatzsysteme versagen, die Notstromaggregate etwa«. Auch die Stellungnahmen der Bundeskanzlerin und ihres Umweltministers sind Gesprächsthema unter den Spazierenden. Kurt Herzog hat die Kurzansprachen als »etwas heuchlerisch« empfunden: »Warum soll man plötzlich Atomkraftwerke mehr überprüfen wollen als vorher? Ich frage mich, wollen die wirklich was ändern oder nur über die nächsten Wochen kommen, bis das Thema nicht mehr so akut ist?«
Plötzlich brummen die Trecker wieder – einige von ihnen setzen die Fahrt fort: auf das Gelände des Erkundungsbergwerks. Flinke Finger haben bewiesen, dass der Zaun weniger gut gesichert ist als mancher Kleingarten. Ruck, zuck sind Traktoren, sind viele Demonstranten auf dem so »sicheren« Areal. »Fukushima ist überall – wir stellen uns quer«, verkündet dort jemand per Protestschild. Polizei erscheint, aber nur wenige Beamte. Konfrontationen mit den Protestierenden, die das Gelände nach einiger Zeit wieder verlassen, gibt es nicht.
Noch während der Aktion auf dem Bergwerksterrain hat ganz in der Nähe das »Gorlebener Gebet« begonnen, zum ersten Mal zusammen mit Muslimen. Vieles verbinde sie mit den Christen, betont der Vorsitzende ihrer Gemeinde im Wendland, Ahmed-Maher Mouhandes; unter anderem die Sorge um die Umwelt. »Wie die Bibel den Christen, so gebieten uns der Koran und die Lehren des Propheten Mohammed, die Schöpfung zu bewahren.« Dieser Auftrag dürfe keine religiösen Grenzen haben, denn überall auf der Welt, so Mouhandes, »leidet die Erde unter den Menschen«. Die Folgen seien jetzt wieder offenbar geworden – in Japan.
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