Explosion beschädigt Reaktor
Entwichene Radioaktivität zog mit dem drehenden Wind bis nach Tokio
Es war wohl nur eine Frage der Zeit, dass nach den Explosionen in den Blöcken 1 und 3 des beim schweren Erdbeben und dem nachfolgenden Tsunami beschädigten AKW Fukushima 1 radioaktives Material austritt. Inzwischen ist das auch amtlich. Folgerichtig kommt der Präsident der Französischen Atomsicherheitsbehörde (ASN), André-Claude Lacoste, zu der Einschätzung, das Unglück in Fukushima auf der Internationalen Bewertungsskala (INES) nicht mehr wie bisher von der Internationalen Atomenergieagentur mit Stufe 4, sondern mit Stufe 6 zu bewerten. Die Katastrophe von Tschernobyl hatte die höchste Stufe 7 auf der INES-Skala.
Die Nachrichtenagentur Kyodo meldet zudem, dass das Aufbewahrungsbecken für die verbrauchten Brennstäbe im Reaktor 4 des japanischen Kernkraftwerks Fukushima 1 laut Betreiberfirma Tepco nicht mehr mit Wasser gefüllt werden kann. Damit bestehe die Gefahr, dass auch radiaktives Material aus den abgebrannten Brennstäben in die Umwelt gerät.
Zuvor hatte sich eine schwere Explosion in Reaktor 2 ereignet, nach Medienberichten innerhalb der Schutzhülle. Die Regierung erklärte, es habe offenbar Schäden am unteren Teil dieser Hülle gegeben, während die Behörde für Atomsicherheit wenig später mitteilte, anscheinend gebe es keine Löcher. Die radioaktive Strahlung im Umkreis des Unglücks-Kraftwerks erreichte gefährliche Werte. »Wir reden jetzt über eine Strahlendosis, die die menschliche Gesundheit gefährden kann«, sagte Regierungssprecher Yukio Edano. In einzelnen Bereichen des Kraftwerks wurden nach seinen Angaben 400 Millisievert gemessen – dies übersteigt den Grenzwert der Strahlenbelastung für ein Jahr um das 400-Fache, schrieb Kyodo.
Zu allem Unglück hatte zu dieser Zeit nach Angaben von Meteorologen der Wind gedreht. Statt Westwind, der die radioaktiven Substanzen Richtung Pazifik blies, kam er zeitweilig aus Norden, so dass radioaktive Teilchen auch in Richtung des Ballungsraums um Tokio getragen wurden, wo tatsächlich eine geringfügig erhöhte Radioaktivität gemessen wurde. Im Großraum Tokio leben mehr als 35 Millionen Menschen. Viele Bewohner hatten sich aus Angst vor dem Atomunfall schon auf den Weg in den weiter entfernten Süden des Landes gemacht.
In dieser Situation hat die Regierung nun erstmals vor einer »Gesundheitsgefährdung« durch erhöhte radioaktive Strahlung gewarnt. Die Strahlung um die Anlage sei »beträchtlich gestiegen«, sagte Regierungschef Naoto Kan am Dienstag und forderte Menschen außerhalb der bereits evakuierten Zone bis zu einem Umkreis von 30 Kilometern auf, in ihren Häusern zu bleiben.
In welchem Maße die Beschädigungen an den Reaktorblöcken 1 bis 3 zu radioaktiven Verseuchungen der Umgebung führen, ist im Moment noch nicht absehbar. Theoretisch sollte selbst eine Kernschmelze höchstens die Wand des Druckbehälters durchdringen. Beim Auftreffen des 2000 Grad heißen Materials auf den Betonboden sollte es beim Aufschmelzen des Betons zu einem Verdünnungseffekt kommen, der zur Abkühlung führt. Diese Einschätzung beruht allerdings bislang nur auf den Erfahrungen in dem 1979 havarierten Druckwasserreaktor des US-Kraftwerks Three Mile Island in Harrisburg und auf Laborversuchen mit wenigen Brennelementen.
Harrisburg bietet allerdings auch eine wenig erfreuliche Vision für die Zeit danach, wie die »Neue Zürcher Zeitung« (NZZ) in ihrer Dienstagsausgabe vorrechnet: Mit der Flutung durch Meerwasser und die zumindest teilweise Kernschmelze sind die Reaktoren selbst ohne die bislang unbekannten unmittelbaren Erdbebenschäden praktisch nur noch radioaktiver Schrott. Dessen Beseitigung hatte bei dem US-Kraftwerk noch im gleichen Jahr begonnen und zog sich laut NZZ über 14 Jahre hin. Dabei habe man fast 100 Tonnen Brennstoff aus dem Reaktor entfernt, radioaktives Wasser dekontaminiert sowie das Kühlsystem demontiert. Die Kosten beliefen sich annähernd auf eine Milliarde Dollar. Und dort ging es nur um einen Reaktor.
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