Ahnung vom Paradies
Heises Film »Sonnensystem«
Thomas Heise hat sich in seinen Filmen bisher nie sehr weit von den Orten seiner Sozialisation entfernt: Ob »Eisenzeit« (1991) oder »Stau« (1992), »Barluschke« (1997) oder »Vaterland« (2002), immer erwies sich der Regisseur als unbestechlicher Chronist deutscher Verwerfungen und Verstrickungen. Vor allem die DDR, ihre Spuren und Folgen waren ihm Material für Szenen aus dem Innenleben verwundeter, zerspaltener Seelen; zugleich hing der Alptraum aller Ideologien des 20. Jahrhunderts und ihrer verhängnisvollen praktischen Ausdeutungen wie ein Schatten über den Biografien seiner Filmfiguren. Vielleicht ist Thomas Heise, wenn es so etwas überhaupt gibt, der deutscheste aller deutschen Dokumentaristen: ein grüblerischer Forscher nach einer Wahrheit weit weg von flotten, den aktuellen Zeitläuften angepassten Schuldzuweisungen; ein Meister der Beobachtung, der seine Zuschauer jenseits allen Moralismus auffordert, sich aus seinen Bildern Eigenes zusammenzusetzen, ohne ihnen bequeme Handreichungen für ein gefälliges Muster zu servieren. Ein Dialektiker, seinem Freund und künstlerischen Ziehvater Heiner Müller nicht unähnlich. Unbequem, streitbar, umstritten.
Und nun: ein so ganz anderer Film, jedenfalls auf den ersten Blick. »Sonnensystem«, gedreht in Tinkunaku, bei der indigenen Gemeinschaft der Kolla, im Norden der argentinischen Provinz Salta rund 2000 Kilometer von Buenos Aires entfernt. Der Alltag von Bauern, die zugleich Handwerker sind, von Frauen, Kindern, Tieren. Das Zusammenspiel von Natur und Mensch, handwerkliche Vorgänge, Dorffeste, archaische Rituale: ein Essay über eine Gegenwart, die aus der Ewigkeit zu kommen scheint. Auch diesmal, wie in anderen seiner Arbeiten, verzichtet Heise auf einen verbalen Kommentar. Jeder soll seine eigene Assoziationen aus den Aufnahmen filtern: Nachdenken über Werden und Vergehen, die Schönheit und Verletzlichkeit des Universums. Das Dorf in den Anden als Spiegel der Welt. Ein Film, gespeist aus Ethnographie und Philosophie.
»Sonnensystem« beginnt im Morgengrauen, mit einem Sonnenaufgang, einem orangefarbenen Himmel, weißen Wolkenformationen vor strahlendem Blau. Dann kahle Berge und stille, einsame Gehöfte, geschützt vor den Unbilden des Winters: Fenster und Türen sind mit Backsteinen ausgefüllt. Schließlich ein Gewitter, nach dem die Natur zu neuem Leben erwacht. Erst danach sind auch Menschen zu sehen: die Schöpfungsgeschichte, zu einer filmischen Sinfonie verdichtet. Heises Kamera beschreibt, wie Lehm zu Steinen geformt wird, wie der Bauer Viviano, der zugleich ein begnadeter Sattler ist, das Leder weich klopft. Winter und Sommer, graue und grüne Landschaften, Kirche und Schule. Dann ein Fest, zu dem die Einwohner ihre traditionell farbenprächtigen Kleider anlegen.
Das Spiel mit Masken, wie wir es schon aus Eisensteins »Que viva, Mexico!« (1932) kennen, nur dass die Masken, wir ahnen es, diesmal aus chinesischer Produktion stammen. Ein Friedhof im Nebel. Die Geburt eines Tisches. Der Tod eines Stiers. Das Ameisenvolk, das sich mitten im Urwald eine eigene Straße gebaut hat, auf der es Blätter und Helme transportiert, emsig, ohne sich aus der selbst bestimmten Ordnung bringen zu lassen. Und der Bergbach, der zu einem reißenden Fluss anschwillt. Naturaufnahmen von großer Schönheit (Kamera: Robert Nickolaus, Jutta Tränkle, René Frölke, Thomas Heise). Die Ahnung eines Paradieses.
Natürlich weiß Heise, dass es eben nur eine Ahnung ist, aber er will sie festhalten als Gegenentwurf zu dem, was auch in Tinkunaku kommen könnte, kommen wird. In gar nicht so ferner Zukunft dürften die Kolla, diese nur 1500 Männer, Frauen und Kinder irgendwo zwischen den Bergen, vom Druck der Moderne eingeholt werden, ihr Leben zu verändern. Der Bürgermeister der nächst größeren Stadt, Orán, hat die Kolla aufgefordert, ihre Dörfer dem Tourismus zu öffnen, eine entsprechende Infrastruktur einzurichten. Dann würde vieles anders; das ursprüngliche Leben müsste aufgegeben oder als Touristenattraktion vermarktet werden: Beides käme einer existenziellen Gefährdung der indigenen Identität gleich. Der Bürgermeister von Orán war, bevor er sein öffentliches Amt antrat, Rechtsanwalt bei El Tabascal, der größten Zuckerrohrfabrik dieses Gebiets. Seit langem streckt die Firma ihre Hände nach dem Land der Kleinbauern aus. Ganz in der Nähe werden schon Bäume gerodet; vielleicht, um Flächen für den gewinnbringenden Sojaanbau zu schaffen, wer weiß.
Auf solche aktuellen Details lässt sich »Sonnensystem« freilich nicht ein: Thomas Heise lag es fern, ein sozialökonomisches Pamphlet zu drehen, er fühlt sich – als Gast, der nach wenigen Wochen Aufenthalt in Argentinien ja nur die äußere Gestalt der Erscheinungen ertasten konnte – dazu keineswegs berufen. Das, so sagt er, müssen argentinische Regisseure leisten. Stattdessen wählt er eine andere Form als die der Reportage und macht die Gefahren, denen die Kolla ausgesetzt sind, durch poetische Überhöhungen, ein visuelles Gleichnis transparent: In den letzten, atemberaubenden Bildern von »Sonnensystem« brechen die Menschen aus ihrem Dorf auf, um in die Stadt zu fahren. Bevor der Bus den reißenden Fluss durchquert, steigen sie aus, helfen sich gegenseitig durch die Fluten: ein Akt der Solidarität. Und dann: Buenos Aires. Eine unendlich lange Kamerafahrt entlang der Slums südlich des Hauptbahnhofes. Ein Ghetto, von Gittern und Mauern umgeben, eng, baumlos, überall Berge von Müllsäcken. Dazu das Lacrymosa, die Tränen, die bei der Kreuzigung Christi vergossen worden sind.
Wie viele Jugendliche aus den Dörfern, wie viele Bewohner mit indigenen Wurzeln mögen hier schon gestrandet sein, weit entfernt von der heimatlichen Landschaft, auf der trügerischen Suche nach Geld und Glück. Und betrifft dieses Finale nicht uns alle? Das Schicksal der Menschheit, die sich, ohne auf die Warnungen des Planeten zu achten, den Strudeln der Moderne aussetzt? Die ihre Herkunft, ihre Wurzeln verleugnet und verdrängt, beim immer schnelleren Tanz ums Goldene Kalb, das sich immer mehr als Chimäre herausstellt... – Vielleicht hat Thomas Heise, der bekennende Atheist, mit »Sonnensystem« seinen ersten Film von biblischer Kraft gedreht.
»Sonnensystem« wurde übrigens unter wesentlicher Beteiligung des Goethe-Instituts ermöglicht. Wie andere Dependancen in Lateinamerika hatte auch das Haus in Buenos Aires die Chance erhalten, zum 200. Jahrestag der Unabhängigkeit von den spanischen Kolonisatoren Projekte unter dem Arbeitstitel »Lateinamerika in deutschen Visionen« zu realisieren. Gabriela Massuh und Inge Stache, zwei Mitarbeiterinnen des Goethe-Instituts in der argentinischen Hauptstadt, luden daraufhin Thomas Heise zur Zusammenarbeit ein. Weil der Regisseur in Deutschland schon mehrfach mit Amateurdarstellern an Brecht- und Heiner-Müller-Inszenierungen gearbeitet hatte, wurde zunächst über ein Theaterstück mit einer indigenen Gruppe nachgedacht. Dann entstand der Plan zu »Sonnensystem«. Heise hofft, dass das Goethe-Institut ihn auch bei seinen künftigen Plänen in Tinkunaku unterstützt. Vielleicht in sieben Jahren möchte er mit einer kleinen Crew zum Volk der Kolla zurückkehren, um zu sehen, was geworden ist. Möglicherweise wird er dann den jungen Leuten – jedenfalls denen, die in ihren Dörfern geblieben sind –, die Kamera in die eigenen Hände geben. Für einen Blick von »innen«, auf die Schönheiten, Widersprüche und Konflikte ihres Lebens, die Reibungsflächen von Tradition und Moderne.
»Sonnensystem« läuft am Donnerstag, 20 Uhr, in der Berliner Volksbühne, danach Diskussion mit Th. Heise. Vertrieb des Films im Selbstverleih des Regisseurs.
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