Mehrheit. Besitz?
Gesagt ist gesagt
Wir müssen deutlicher machen, dass wir in vielen Fragen die Interessen der Mehrheit vertreten.
GESINE LÖTZSCH in »Neues Deutschland«
Wichtig ist, rüberzubringen: Unser Weg ist richtig.
HORST SEEHOFER im ZDF
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Mit dem Satz von Gesine Lötzsch ist mein Drama-Gefühl angesprochen, ich muss mir das Leben einer Parteispitze als Tragödie vorstellen. So Vielen ein Tribun zu sein, eindeutigster Anwalt – aber diese Arbeit leider ohne den Zuspruch dieser Vielen tun zu müssen. Das reibt auf. Das kränkt, kerbt. Das verlangt einen Gleichmut, zu dem auch ein Sisyphus wohl erst fähig war, nachdem Camus über ihn geschrieben hat. Die »Linke« braucht einen Camus, oder die Mehrheit begreift endlich!
Warum verschließt die Mehrheit Ohren und Augen just denen, die Mehrheit vertreten? Findet Mehrheit nicht zur »Linken«, weil ihr das Hören und Sehen verging? Kapitalismus ist grausam. Und Mehrheit vielleicht schwerfällig?
Seltsam, dass Sätze wie der hier kommentierte besonders gern fallen, wenn gerade ein Fell den Bach hinabschwamm. Aber Felle können offenbar noch so schnell wegschwimmen, das dicke Fell der Gewissheit kommt nicht mal bei Sturmflut ins Schwimmen. Anders gesagt: Offenheit als demokratische Tugend ist nie hochkonjunkturell. Hoch im Kurs steht nur der Schein von Stärke, Gewissheit, Kursklarheit. Zustände wie Schwäche, Elend, Hilflosigkeit sind wohl so negativ belangt, dass wir einander nicht mehr über unseren wahren Zustand informieren können. Die zum Parteienstaat gewordene Demokratie tritt auf, als sei der traditionell Dumme: das Volk.
Darum die Litanei von Partei zu Partei: Wir müssen es besser erklären – wir müssen die Menschen mitnehmen. Das ist Festlegung der Einbahnstraße als einziger Art, sich miteinander fortzubewegen. Umschreibung eines Herrschafts- und Intelligenzverhältnisses: Wir da oben, ihr da unten; wir da vorn, ihr da hinten; wir Lehrende, ihr Schüler; wir Führende, ihr Geführte. Schmerzender Wurmfortsatz des Avantgardismus.
Da sagen Politiker also, ihre Partei vertrete die Interessen der Mehrheit, nur werde das noch nicht mit gebührend wirksamer Verve vermittelt. Vielleicht ist die Lage weit schlichter: Der Bürger gestaltet sein Leben längst abseits der politischen Hauptberufler und zwar ohne Neugier darauf, wie Parteien den eigenen Überlebenskampf mühsam mit Inhalt kaschieren. Er will nicht mitgenommen, sondern in Ruhe gelassen werden.
Sind Interessen, Bedürfnisse denn so monolithisch, dass eine Partei sagen kann: Ich hab's, ich bin's?! Könnte es denn nicht sein, dass auch die politischen, sozialen Interessen der Leute auf die Politik zurückwirken und diese verändern? Und muss man gleich in VIELEN die Mehrheit vertreten? Die Wahrheit des Politischen ist doch wohl in jenem unbestimmten Bereich zu Hause, wo entgegengesetzte Prinzipien sich wechselseitig kreuzen und berichtigen. Und eine Mehrheit sich rasch auffächert.
Zeugung ist erotisch, Parteien sind's nicht, sie wollen dauernd die Überzeugung. Aber ein Kind ist eher erreichbar als die Mehrheit. Das ist und bleibt der Sieg des Lebens über lebensferne Floskeln.
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