... und die Glocken verschwingen
Poesie zu Ostern: Umarmung der Lüfte, das Klima des Herzens und der Traum von der Gärtnerin
Spuren
Quer über diese Seite laufen Schriftzeichen, die zur Vogelkrallensignatur werden. Geist wird Natur, Kultur zu Kreatürlichkeit, ein guter Weg. So gestaltete Peter Handke den Schutzumschlag seines Romans »Mein Jahr in der Niemandsbucht«. Eine Wegweiserzeichnung. Spurenlegung. Es gibt Weisungen, denen folgt man gern, weil sie deren Gegenteil sind. Verführungen ins Weglose. Gerade jetzt, wo wir für Momente die alljährliche Klassik betreiben: Osterspaziergang.
Der Spaziergänger geht nicht weg, noch gelangt er an ein Ziel. Die Distanz zur Welt bleibt ihm stets die gleiche. Das ist es, das schöne Weltverhalten: immer weitergehen, ohne am Zwang zu leiden, dabei weiterzukommen. Nicht, wie wir über Land gehen, ist wichtig, sondern wie wir über Land schauen. Jede schöne Aussicht ein Bilderrätsel, das uns meint. Alles anschauen, bloß nicht an Rätsels Lösung denken! So sind wir, osterspazierend, ein Teil dessen, das uns übersteigt. Und wir Klugen, Klaren, langweilig Vernünftigen lassen's mit uns geschehen – das ist sie vielleicht schon, die Auferstehung.
"Polnische Osternacht" von Florian Kokot
Niemand hat mich gerufen. Wahrlich wahrlich,
ich sage euch, die Welle Wind, die dauert
wird Asche und Spuren in eure Gesichter
furchen. Alles, was bleibet, es reift so
allmählich. Die Glocken verschwingen.
Lau ist die Erde. Blut wird blühen. Der Mund,
der sich wölbt, von der Kerze getroffen,
stumm harrt er überm Gesicht Morgen.
Niemals, Warszawa, verlodert
das Feuer auf deiner Stirn.
Ostern von Johannes Bobrowski
Dort noch Hügel,
die Finsternis, aber
die Steige sind recht, aus der Ferne
die Ebenen nahn, mit dem Wind
herüber ihr Schrei.
Über den Wald. Der Fluß
kommt, die Birkenschläge
gehen an die Mauer, Türme,
Gestirn um die Kuppeln, das goldne
Dach hebt an Ketten ein Kreuz.
Da
in die finstere Stille
Licht, Gesang, wie unter
die Erde erst, Glocken, Schläge.
Der Stimmen Hähnegeschrei
und Umarmung der Lüfte,
schallender Lüfte, auf weißer
Mauer Türme, die hohen
Türme des Lichts, ich hab
deine Augen, ich hab deine Wange,
ich hab deinen Mund, es ist
erstanden der Herr, so ruft,
Augen, ruft, Wange, ruf. Mund,
ruf Hosianna.
Osterwind von Hilde Domin
Wir haben es den Blumen und Bäumen voraus:
Unsere Jahreszeiten
sind schneller.
Der Tod steigt im Stengel unseres Traums,
alle Blüten werden dunkel
und fallen.
Kaum ein Herbst. Der Winter kommt
in einer Stunde.
Doch da ist keine Wartezeit,
sicheres Warten
für kahle Zweige.
So wie der Vogel
innehält und sich wendet im Flug,
so jäh, so ohne Grund
dreht sich das Klima des Herzens.
Weiße Blütensignale im Blau,
Auferstehung
all unserer toten
Blumen
im Osterwind
eines Lächelns.
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