Auch Angela Merkel war Wohnungsbesetzerin
Viele wohnten zu DDR-Zeiten illegal / Leipziger Wissenschaftler schrieb jetzt ein Buch darüber
Dieter Rink, Student der Kulturwissenschaft, zog im Winter 1982/83 gemeinsam mit seiner Freundin in ein vorgründerzeitliches Haus in der Leipziger Braustraße 20 ein. Das Erdgeschoss war feucht, das Dach und die Fenster waren undicht, die Dachrinnen kaputt. Das Haus stand nahezu leer, zwei Monate zuvor waren die letzten offiziellen Mieter ausgezogen; nur ein Medizinstudent wohnte noch dort. Da auch niemand mehr da war, der einen Schlüssel hatte, brach Rink eine Wohnung in der zweiten Etage auf. Von den drei Zimmern erschienen zwei bewohnbar, im dritten war schon der Putz von den Wänden gefallen. Die Küche schien auch benutzbar zu sein, also wurde renoviert, und wenig später zog das junge Paar ein.
Der Student Dieter Rink, der heute am Leipziger Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung arbeitet, war kein Einzelfall. Auch Familien und Ältere eigneten sich zu DDR-Zeiten leer stehenden Wohnraum an. Was sie antrieb, war die blanke Wohnungsnot.
Prominente Besetzerin
Im real existierenden Sozialismus gab es vor allem in den Großstädten ein eklatantes Missverhältnis zwischen dem Bedarf an Wohnungen und dem, was der Staat zur Verfügung stellte: »Das lag nicht am bösen Willen der zuständigen Mitarbeiter in den Wohnungsbehörden, sondern an dem allgegenwärtigen Missmanagement«, sagt Udo Grashoff. Der Leipziger Historiker hat über das Phänomen des illegalen Wohnens zu DDR-Zeiten ein Buch geschrieben, das im Mai erscheinen soll.
»Wenn ich mit westdeutschen Historikern darüber rede, sind die sehr erstaunt. Davon haben die noch nie gehört. Und das sind wohlgemerkt Wissenschaftler, die zur DDR forschen«, sagt Grashoff. Für ihn ist das Schwarzwohnen ein Beispiel dafür, dass die SED nicht jeden Bereich kontrollieren konnte: »Beim Wohnen herrschte auch Anarchie.«
Prominentes Beispiel ist Angela Merkel, die Anfang der 80er nach der Scheidung von ihrem ersten Mann mit diesem in einer Wohnung weiter leben sollte – damals üblich, das konnte sich über Jahre hinziehen. Da Merkel die Geduld nicht aufbrachte, okkupierte sie kurzerhand eine leer stehende Wohnung, illegal ohne Wohnraumzuweisung. Nachzulesen in ihrer Biografie.
Etwa 40 Interviews führten Grashoff und sein Journalistenkollege Tobias Barth mit ehemaligen Schwarzwohnern vor allem in Berlin, Leipzig und Halle, auch Dieter Rink gehörte dazu. Die meisten gaben bereitwillig Auskunft. Grashoff, der selbst aus Halle stammt, beschränkte sich auf die drei Städte, um sich nicht zu verzetteln, Dresden fehlt darum in dem Buch.
Legal oder illegal?
Besonders oft besetzten Studenten aus »nicht-staatsnahen« Studienrichtungen wie Theologen, Künstler und Mediziner Wohnraum. Aber es waren auch Kellner, Lehrerinnen, Schichtarbeiter und Familien mit Kindern darunter. Jeder kannte marode Altbauwohnungen in der Umgebung, die aus unerfindlichen Gründen leer standen und oft mit wenigen Handgriffen wieder bewohnbar wurden. Manchmal musste aber auch das ganze Dach gedeckt werden. Neben dem direkten und brachialen Weg des Aufbrechens einer leer stehenden Wohnung wählten Schwarzwohner auch indirekte Zugänge über Untermietverträge, informelle Abmachungen mit dem Vermieter oder Tricks beim Wohnungstausch.
Das zeigt auch das Beispiel von Annerose Dähne, die damals in Halle in der August-Bebel-Straße 55 wohnte. Eigentlich sollte das Haus, so die Erzählung, leer gezogen und abgerissen werden. Still und leise war es schrittweise in die Hände von Studenten übergegangen. Es wurde nicht viel renoviert beim Einzug, meist nur die alten Tapeten überstrichen und »schöne Bilder und Plakate angebracht – die waren wichtig«, erinnert sich Annerose Dähne, die bis 1989 in dem Haus wohnte. Die damalige Biologiestudentin hatte mit einer älteren Frau kurz vor deren Auszug einen Untermietvertrag abgeschlossen. Von der Frau erfuhr sie, an wen Strom und Miete zu bezahlen waren, so dass sie selbst ihren Zustand als »halbillegal« empfand. Andere Studenten im Haus wohnten richtig »illegal«, das heißt ohne Anmeldung und zahlten auch keine Miete.
Der ruinöse Zustand vieler Wohnungen zog es nach sich, dass Schwarzwohner in der Regel kein schlechtes Gewissen hatten. Weit verbreitet war zudem das Gerücht, dass man durch eine mindestens dreimonatige Mietzahlung einen quasi-legalen Status erreichte. Die von den Abteilungen für Wohnungspolitik der Räte der Stadtbezirke durchgeführten Ordnungsstrafverfahren zeigten jedoch, dass es sich dabei um eine Illusion handelte.
Die Behörden gingen in den Städten unterschiedlich restriktiv vor. In Leipzig und Halle mussten Illegale mit einer Räumungsaufforderung rechnen. Hier hatten die Behördenmitarbeiter einen besseren Überblick. Berlin dagegen war das Eldorado der Besetzer. »Bei einer groß angelegten Kontrolle, an der neben den Mitarbeitern der Wohnungsbehörden auch so genannte gesellschaftliche Kräfte von der Polizei über die Nationale Front teilnahmen, stellte man fest, dass ein Viertel des Leerstandes gar nicht leer stand«, berichtet Grashoff. In Berlin wohnten Tausende illegal.
Teure aber milde Strafe
Entdeckt wurden illegale Wohnungsbezüge häufig durch Anzeigen konkurrierender privater oder institutioneller Interessenten für die Wohnung, selten durch Volkspolizei oder Stasi. Wer erwischt wurde, bekam eine Strafe aufgebrummt; bis zu 500 Mark wegen »Verstoßes gegen die Wohnraumlenkungsverordnung«, damals viel Geld bei Monatsmieten von 30 bis 80 Mark. Aber nur etwa die Hälfte musste die Wohnung auch verlassen. Viele zahlten die Miete anonym und nur unter Angabe der Wohnungsnummer. »Allein in Berlin Prenzlauer Berg fielen jeden Monat um die 30 000 Mark Miete an, die nicht zugeordnet werden konnten«, sagt Grashoff. Mancher hatte auch ein Loch in der Decke repariert, Wände verputzt oder gemalert. Viele trugen erheblich zum Werterhalt der Häuser bei. All das sprach für die Delinquenten. Einer der Interviewten erinnert sich: »Ich musste 300 Mark bezahlen und durfte bleiben. Das war für mich wie ein Fünfer im Lotto.«
Andere hatten weniger Glück. Ein Mitarbeiter eines Theaters in Halle sollte zum Beispiel mit Ende 20 ins Kinderzimmer seiner Eltern zurückziehen, Studenten empfahl man das Fünfbettzimmer im Wohnheim mit einem Bad für zehn Leute und einer Küche für die ganze Etage. Laut Zivilgesetzbuch durfte aber niemand auf die Straße geräumt werden.
Udo Grashoff: »Schwarzwohnen. Die Unterwanderung der staatlichen Wohnraumlenkung in der DDR.« Vandenhoek & Ruprecht. Taschenbuch, 200 S. 43 Abb.,. ca. 19,90 Euro.
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