- Wirtschaft und Umwelt
- ND-Serie: Grenzen des Wachstums
Der ökologische Fußabdruck ist zu groß
Wachstumsensemble von Geld, Markt, Kapitalverhältnis und fossilen Energieträgern hat ausgespielt
Wachstum kann süchtig machen, insbesondere wenn die Raten zurückgehen. Dann muss den Wachstumssüchtigen aller Lager ein Schuss Wachstumsbeschleunigung verabreicht werden. Die OECD pflegt seit Jahren eine Publikationsserie unter dem Motto »Going for Growth«. Die »Wirtschaftsweisen« in den USA empfehlen ihrem Präsidenten »Pro-Wachstum-Prinzipien« – nicht nur für die USA, sondern gleich für alle Welt. Dazu gehören »Privatisierung, Öffnung aller Märkte und vor allem die Liberalisierung der Finanzmärkte«. Zumindest das letztgenannte Pro-Wachstum-Prinzip hat sich als ursächlich für die gegenwärtige Krise herausgestellt.
Die Idee der Wachstumsbeschleunigung ist neueren Datums. Über Jahrhunderte, ja Jahrtausende war »Null-Wachstum« der Normalzustand. Der Wachstumsdiskurs kommt erst mit dem »Systemwettbewerb« des 20. Jahrhunderts auf – die höchsten durchschnittlichen Raten werden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gemessen. Doch die Tendenz ist rückläufig. Allein die Aufrechterhaltung von konstanten Wachstumsraten erfordert mit der Niveausteigerung des Bruttoinlandsprodukts immer höhere absolute Beträge. Das geht mit dem Zinseszins in der fiktiven Welt der Finanzen, aber nicht, wie Immanuel Kant es sagte, auf der »begrenzten Kugelfläche« des Planeten Erde. Die Tragfähigkeit der irdischen Ökosysteme ist irgendwann erschöpft. Der »ökologische Fußabdruck«, insbesondere der Menschen in den Industrieländern, ist zu groß. Die begrenzte Kugelfläche des Planeten Erde wird zertrampelt.
Woran das liegt? Von den vielen Gründen ist einer für die Wachstumsdynamik der vergangenen zwei Jahrhunderte besonders wichtig: die Nutzung fossiler (und später auch nuklearer) Energieträger. Denn Wachstum kommt vor allem infolge der Erhöhung der Produktivität der Arbeit zustande. Die »Wohlfahrt der Nationen« steigt, wenn immer weniger Menschen immer mehr Produkte produzieren und immer schneller auf den Markt werfen können. Der Anstieg der Produktivität industrieller Arbeit ist eine Folge (a) der systematischen Nutzung von Wissenschaft und Technik, (b) der sozialen Organisation der kapitalistischen Mehrwertproduktion in der aufkommenden Industrie, (c) der »Großen Transformation« zur Marktwirtschaft und – last but not least – (d) des massiven Einsatzes fossiler und, seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, nuklearer Energieträger. Dieses Ensemble ist es, das Wachstum bringt – bis die wachsende Ökonomie an »Planetary Boundaries« (planetarische Grenzen) stößt.
Fossile Energieträger haben viele Vorteile im Vergleich zu der solaren Energie – sie sind nicht ortsgebunden, weil sie sich relativ leicht mit Hilfe globaler logistischer Netzwerke (Tankerrouten, Pipelines, Eisenbahnlinien etc.) zu den Verbrauchsorten transportieren lassen. Sie sind leicht zu speichern und stehen 24 Stunden am Tag und dies während des ganzen Jahres zur Verfügung. Doch der Nachteil ist, dass die Bestände der fossilen und nuklearen Energieträger endlich sind. Bevor sie zur Neige gehen, muss immer mehr Energie aufgewendet werden, um ein bestimmtes Quantum fossiler Energie »zu ernten«. Das steigert den Preis. Mehr noch: Die Verbrennungsprodukte fossiler Energieträger bleiben als Treibhausgase in den Sphären der Erde und heizen die Atmosphäre auf. Auch die hermetisch gegenüber allen natürlichen Zyklen gesicherte Endlagerung nuklearer Abfälle ist begrenzt (vielleicht sogar ausgeschlossen), so dass die heutigen, langfristig nicht sicheren Zwischenlager eigentlich Endlager sind. Das ist das tödliche Dilemma des Atomzeitalters.
Die Grenzen des Wachstums sind also auch in industriellen und postindustriellen Zeiten nicht zu negieren. Daher ist es kein guter Rat, Schuldnerländer in der heutigen Finanzkrise aufzufordern, »aus den Schulden herauswachsen«. Denn die realen Wachstumsraten müssten die realen Zinsen übersteigen. Doch sind die realen Zuwächse tendenziell rückläufig und der Schuldendienst nimmt gerade mit steigendem Risiko und daher steigenden Zinsen zu.
Dann wird Druck auf die Lohneinkommen und den Sozialstaat ausgeübt, um Mittel für den Schuldendienst freizumachen. Die Verteilung wird zu Gunsten des Kapitals »korrigiert«. Die gesamtwirtschaftliche Nachfrage wird zwar gesenkt, aber gleichzeitig werden auch die Arbeitskosten verringert. Die Profite steigen und wachstumswirksame Investitionen werden rentabel. Eine zumindest temporäre Verarmung ganzer Bevölkerungsschichten ist die Folge, auch in Europa.
Wenn es nicht möglich ist, aus den Schulden herauszuwachsen und die Austeritäts-Maßnahmen der Umverteilung von unten nach oben sozialen und politischen Widerstand provozieren, bleibt nur die Streichung von Schulden. Dies war in vorindustriellen Zeiten ganz üblich, weil es bei Nullwachstum sowieso ausgeschlossen war, aus den Schulden »herauszuwachsen«. Daher gab es das biblische Jubeljahr des periodischen Schuldenerlasses, die »Lastenabschüttelung« im antiken Griechenland, die Streichung von souveränen Schulden und das kanonische Zinsverbot der katholischen Kirche; im Islam ist es bis heute (formell) gültig.
Die frivole Rede vom »Wachstum der Grenzen« anstelle der »Grenzen des Wachstums« ist da wie die Meerwasserspülung, mit der die freiliegenden Brennstäbe im Reaktor von Fukushima gekühlt werden, nämlich unangemessen und hilflos. Es wird gar nicht anders gehen, als den Pfad der Entwicklung zu ändern, also anderen Wegweisern als denen des bisherigen Wachstumsensembles von Geld, Markt, Kapitalverhältnis und fossilen Energieträgern zu folgen. Wachstum ade, Fortschritt und Entwicklung seid willkommen.
Es ist längst ein Gemeinplatz, dass das ökonomische Wachstumskonzept an seine Grenzen gestoßen ist. Doch was kann aus dieser Sackgasse führen – ein grüner Kapitalismus, eine sozial-ökologische Umwälzung oder Konsumverzicht? Erstmals führt eine Veranstaltung die unterschiedlichen Debatten dazu zusammen: der Attac-Kongress »Jenseits des Wachstums?!« vom 20. bis 22. Mai in BerlinTeil 2 der ND-Serie am kommenden Freitag beschäftigt sich mit dem Wachstumsindikator Bruttoinlandsprodukt (BIP).
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