Hightech am Lagerfeuer
Die »Hedonistische Internationale« traf sich zum »2. Weltkongress« in der tiefsten anhaltischen Provinz
Rechts neben dem Eingang zum Kongressgelände steht ein nackter junger Mann auf einem Trabi-Wrack und zielt mit Pfeil und Bogen in den Himmel. Zwei andere Unbekleidete stehen außenherum, eine der beiden macht Fotos von dem Mann auf dem Autodach. Im Hintergrund hört man die elektronische Musik vom »Trance-Workshop«. Vor den Hallen, in denen die Grenztruppen früher ihr Gerät lagerten und warteten, bildet sich derweil eine Traube Diskutierender: Gerade ist ein weiterer Veranstaltungsblock zu Ende gegangen, »Hedonismus auf dem Land« und »Gentrifizierung« in Städten waren die Themen und die Veranstaltungsräume »Meer« und »Sonne« waren gut gefüllt. Im alten, seit Jahren stillgelegten Bahnhofsgebäude an der gleichfalls seit Langem überwucherten Bahnlinie liegt eine Gruppe auf dem Rücken auf Matten und vollführt entspannende Atemübungen, während auf dem alten Bahnsteig eine Gruppe im Kreis sitzt und diskutiert, wie die deutsche Steuergesetzgebung der letzten Jahre Spekulationskapital in die Immobilienbranche schaufelt: Samstagnachmittag in Riebau bei Pretzier bei Salzwedel, wo am Pfingstwochenende der Geist auf die Gemeinde wirken sollte. Der Geist des Hedonismus, schließlich ist das hier der »2. Weltkongress der Hedonistischen Internationale«.
Zu drei Tagen Workshops, Feier, Tanz und Freude auf dem alten Grenzer-Kasernengelände, das vor Jahren von einer Stiftung erworben wurde und seither als ständige Heimstatt eines guten Dutzends »Aussteiger« gilt, sind vielleicht 200 Besucher angereist, ausweislich der Autokennzeichen auf dem Parkplatz nicht nur aus ganz Deutschland, sondern auch darüber hinaus: Auch in Italien, Großbritannien und Spanien gibt es offenbar reisefreudige Anhänger des politischen Lustprinzips. Und wer sich nicht gerade einen Vortrag anhört oder einen körperlichen Workshop besucht, der sucht das Plaisir irgendwo zwischen den Campingzelten, der Solardusche und der veganen Suppenküche – wenn er nicht gerade im Internet unterwegs ist und Blogbeiträge verfasst oder sich in einem Workshop mit neuen Medien und politischer Mobilisierung befasst. Hightech trifft Bauwagen, anspruchsvolle politologisch-philosophische Vorträge treffen auf die entspannte Camp-Atmosphäre, wie man sie von alternativen Open-Air-Festivals wie etwa der »Fusion« in Mecklenburg-Vorpommern kennt.
Der »Hedonismus« hat einen zweifelhaften Ruf in der warenproduzierenden Welt unserer Tage. Gerade in eher linken, fortschrittlichen Kreisen wird er oft als egoistische Haltung (miss-)ver- standen, als ein Lebensstil des »Nach mir die Sintflut«, der weder zum Wohlstand beiträgt noch Werte kennt noch überhaupt interessiert ist an Fragen der gesellschaftlichen Ordnung. Auch in der neuzeitlichen wie in der klassischen Philosophie gibt es eine Diskussion, die bis auf Aristipp von Kyrene, der schon gut 400 Jahre vor unserer Zeitrechnung über das Lebensprinzip der individuellen Vermeidung von Last und Leid schrieb. Die zeitgenössischen Hedonisten, wie sie sich in Riebau versammelt haben, wenden diese alte Debatte ins ausgesprochen Politische: Wenn das, was Leid und Last verursacht, seine Wurzeln letztlich in der politischen und gesellschaftlichen Ordnung hat, dann weist nur politischer Aktivismus den Weg zur Verwirklichung des Glücks – ganz besonders dann, wenn dieser Aktivismus selbst noch Freude macht.
Insofern ist etwa das Berliner Bündnis gegen die »Media-Spree«-Bürobebauung am Flussufer, die sich auf dem Kongress vorstellt, eine beispielhaft »hedonistische« Initiative: Sie bündelt den Unmut der Club-Szene über das geplante Verschwinden ihrer Orte in fröhlichen, aber politisch entschiedenen »Paraden« zu Lande oder zu Wasser. Oder aber die »Apfelfront«, die sich satirisch gegen Neonaziumtriebe zur Wehr setzt, die »Nachhaltigkeitsguerilla«, die mit Aktionen im öffentlichen Raum auf die ökologische Frage eingeht – und last but not least eine Autorin des legendären »Handbuchs der Kommunikationsguerilla«, das schon seit den späten 90er Jahren lehrt, wie etwa politische Plakate oder Investoren-Präsentationen mit den Mitteln der Satire bis zur Kenntlichkeit entstellt werden können. Hinzu kommen aber auch ganz handfeste Kurse, die viel mit Hightech zu tun haben: So war auf dem Kongress sogar eine Gruppe angekündigt, die während der ägyptischen Rebellion im Frühjahr das von der Regierung »abgeschaltete« Internet durch Modem-Einwahlknoten »überbrückte«. Das Programmieren, sagt denn auch Marek Tuszynski von der Initiative »tacticaltech« auf seinem Workshop, ist schon heute eine der entscheidenden Kulturtechniken politischen Widerstands – und erst recht in Zukunft.
Das bestreitet niemand der versammelten Hedonisten, auch wenn das nächtelange Brüten vor dem Bildschirm sicher nicht das ist, was man landläufig unter Lust und Freude versteht. Doch als der Tag dann zu Ende geht und an verschiedenen Stellen des Geländes Musik zu wummern beginnt, bereitet sich der Hedonismus auf einen langen Abend vor. Dazu wird zunächst ein entspannendes Bad im Freien eingelassen – und im Gegensatz zu manchem Workshop – regiert dabei ganz ausgesprochen die Low-Tech: Damit das Wasser auch angenehm warm wird, wird ein Lagerfeuer unter der metallenen Wanne entfacht.
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