Tunesier wollen nicht nur Ben Ali vor Gericht sehen
Bevölkerung sieht beunruhigende Anzeichen dafür, dass das alte System noch weitgehend intakt ist
Für die Menschenrechtlerin Radia Nasraoui ist es eine »frustrierende« Enttäuschung, dass die Prozesse gegen Ben Ali in dessen Abwesenheit stattfinden. »Ben Ali ist für Tausende Fälle von Folter und Hunderte Morde verantwortlich. Seine Familie hat das Land ausgeplündert. Wie soll über ihn gerichtet werden, wenn er nicht anwesend ist«, fragt die Anwältin, die selbst unter psychischen und physischen Folgen des jahrzehntelangen Widerstands gegen das Regime leidet. »Die Behörden hätten auf seiner Auslieferung bestehen sollen.« Doch Saudi-Arabien reagierte nicht auf einen entsprechenden Antrag der tunesischen Übergangsregierung. Man bleibe aber dran, versicherte ein Sprecher der Militärjustiz.
Der Expräsident selbst ließ durch einen Anwalt erklären, dass er den für den heutigen Montag angesetzten Prozess als »Maskerade« betrachte. Seit seiner Nacht-und-Nebel-Flucht am 14. Januar war es das erste Mal, dass sich Ben Ali – wenn auch indirekt – öffentlich äußerte.
Fast 200 Anklagepunkte stehen bei diesem und den folgenden Prozessen zur Verhandlung. Der gestürzte Staatschef und seine Frau Leila Trabelsi sollen sich zunächst wegen illegalen Waffen- und Drogenbesitzes sowie Geldwäsche verantworten. Darüber hinaus werden ihm und Mitgliedern seines Staats- und Regierungsapparats Mord, Korruption und Machtmissbrauch vorgeworfen.
Tatsächlich reicht vielen Tunesiern eine Anklage gegen die Clans der Ben Alis und der Trabelsis bei weitem nicht aus. Auch für den Gründer des Nationalen Rates für Freiheiten in Tunesien, Omar Mestiri, wäre das eine Farce. »Vor Gericht sollte nicht eine Person, sondern ein ganzes System stehen, damit sich so etwas niemals wiederholt«, fordert er. Ohnehin sieht sich die Übergangsregierung der immer lauter werdenden Kritik ausgesetzt, sie verschleppe die Revolution und gehe zu gnädig mit den Kadern des alten Systems um.
Für Aufsehen sorgte die Verhaftung eines hochrangigen Polizeibeamten, der mit Details über das Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen die Demonstranten Anfang des Jahres an die Öffentlichkeit gegangen war und vom Innenministerium Aufklärung gefordert hatte. Für die Tunesier war das ein weiteres Indiz dafür, dass das System immer noch intakt ist. Für den Staatssekretär für Jugend und Sport, Slim Amamou, war dies sogar ein Rücktrittsgrund. »Das Innenministerium hat sich auf eine seltsame Weise reorganisiert und funktioniert wie eine Al-Qaida-Zelle, dezentral und archaisch«, erklärte er nach seiner Entscheidung Ende Mai. Zwar seien der Minister wie auch die anderen Männer in der Regierung integer, aber dieser Apparat sei ein echtes Problem.
Diese Meinung teilt sogar Übergangspremier Béji Caïd Essebsi, der auch damit die Verschiebung der ersten freien Wahlen begründete. Die ursprünglich für Juli geplante Abstimmung soll jetzt am 23. Oktober stattfinden. »Am wichtigsten ist für uns, dass die Wahlen transparent verlaufen«, erklärte er nach Konsultationen mit den Parteien. Die von der Regierung eingesetzte Wahlkommission brauche mehr Zeit zur Organisation. »Die Alternative wäre, dem Innenministerium alles zu überlassen und damit die Fehler des alten Regimes zu wiederholen.«
Auch die jungen Parteien verlangten mehr Zeit, um sich zu etablieren und ihre Programme bekannt zu machen. Die Abstimmung wird von allen als zukunftsentscheidend bewertet. Dass der neue tunesische Staat ein demokratischer sein soll, darin sind sich alle Akteure einig – auch die wieder zugelassene islamistische Partei En Nahdha. Allerdings nehmen ihr viele Menschen dies nicht ab. Während sich die Parteiführung modern gibt, werden ihre Anhänger in der politischen Auseinandersetzung an der Basis immer aggressiver. So verprügelten vor wenigen Tagen im Landesinnern militante Mitglieder von En Nahdha junge Frauen und Männer, die friedlich gegen den Missbrauch ihrer Religion zu politischen Zwecken demonstrieren wollten.
Im Vordergrund der politischen Debatten jedoch stehen Alltagsprobleme, allen voran das der Sicherheit im Lande. Die Polizei scheint überfordert, ein Teil der Sicherheitskräfte mag daran sogar interessiert sein – jedenfalls hat die Kriminalität erheblich zugenommen. Die sozialen und ökonomischen Erwartungen der Menschen bleiben vorläufig unerfüllt. Das Bruttoinlandsprodukt sinkt, der Tourismussektor ist eingebrochen und die Arbeitslosenrate liegt bei 25 Prozent.
Derweil forderte Übergangspremier Essebsi die Tunesier auf, »endgültig alle Formen von Streik und Protest zu unterlassen«. Solche Worte aber treffen bei der Bevölkerung auf wenig Verständnis. Getragen vom Stolz, sich als erstes arabisches Land aus der Diktatur befreit zu haben, verteidigen die Tunesier ihr hart erkämpftes Recht auf Mitbestimmung. Dafür so schnell wie möglich die geeigneten Bedingungen zu schaffen, ist Aufgabe der Übergangsregierung.
Aufstieg und Fall
Zine el-Abidine Ben Ali, geboren 1936, hatte dem ersten Präsidenten der Tunesischen Republik, Habib Bourguiba, als Sicherheitschef und Innenminister gedient, bevor er seinen Förderer im Oktober 1987 unblutig stürzte: Bourguiba wurde von einem Arzt für senil erklärt und abgesetzt.
Am 7. November 1987 übernahm Ben Ali das Amt des Staatspräsidenten, das vom Parlament auf 15 Jahre begrenzt wurde. 2002 ließ der mit zunehmend diktatorischen Methoden regierende Staatschef jedoch die Verfassung ändern, um seine Herrschaft verlängern zu können. 2004 und 2009 wurde er nach offiziellen Angaben wiedergewählt. Kritiker beklagten Wahlmanipulationen.
Das Fanal des Aufstands gegen den Despoten setzte am 17. Dezember 2010 der Straßenhändler Mohammed Bouazizi, der sich in der Kleinstadt Sidi Bouzid mit Benzin übergoss und anzündete. Bouazizi erlag seinen Verletzungen am 4. Januar. Kurz zuvor hatte Ben Ali durch einen Besuch am Krankenbett des schwer Verletzten versucht, den Protesten, die inzwischen viele Städte des Landes ergriffen hatten, die Spitze zu nehmen – vergebens. Am 14. Januar musste er fliehen. Seither genießen Ben Ali und seine Frau Leila Trabelsi Asyl in Saudi-Arabien.
ND
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