Hitler, das Militär und die Deutschen
Notizen von einem Kolloquium in Berlin zum Krieg gegen die UdSSR
In der Schweiz wurde für eine mehrstündige Dokumentation mit der Ankündigung geworben: »Erleben Sie den deutschen Überfall auf die Sowjetunion in Echtzeit«. »Die können sich das wohl noch erlauben«, meinte der Berliner Faschismusforscher Kurt Pätzold. Deutsche Zeitungen titelten dieser Tage iimmerhin: »Ein Krieg wie kein anderer«, »Der blutigste Krieg der Weltgeschichte«. Mehrheitlich lauteten die Schlagzeilen indes: »Hitler überfällt die Sowjetunion«, »Was Hitler wirklich wollte« und »Barbarossa – der Anfang vom Ende Hitlers«. Es ist also wieder mal nur Hitler gewesen.
Ein Kolloquium, zu dem die Berliner Freunde der Völker Russlands, die Berliner Gesellschaft für Faschismus- und Weltkriegsforschung sowie die Rosa-Luxemburg-Stiftung ins hauptstädtische Russische Haus der Wissenschaft und Kultur luden, nahm sich der Frage an, wessen Krieg denn das nun war, der am 22. Juni 1941 begann, wer ihn gewollt, geplant und mit welchem Ziel geführt hat.
»Russen wissen sehr gut, wer diesen Krieg angefangen hat«, sagte der russische Militärattaché zum Auftakt. Sergej Kudrjaschow vom Deutschen Historischen Institut in Moskau kritisierte Umdeutungen realer Geschichte und Revisionismus vor allem im Baltikum und in der Ukraine und zerpflückte die bereits in den 60er Jahren widerlegte und nun wieder hervorgekramte Präventivkriegsthese, nach der Hitler einem Angriff Stalins zuvorgekommen sei. Im Gegenteil, der Diktator in Moskau habe alles zu vermeiden versucht, was dem Diktator in Berlin einen Vorwand für einer Überfall bieten könnte. Exakte Erkenntnisse zu Überlegungen und Entscheidungen in der Sowjetführung seien freilich erst nach der vollständigen Öffnung der Archive möglich. Kudrjaschow informierte darüber, dass Russlands Präsident angewiesen habe, bis zum Jahr 2014 das gesamte Stalin-Archiv offenzulegen. Sein Institut habe zudem Medwedjew vorgeschlagen, alle von der Sowjetarmee 1945 erbeuteten deutschen Dokumente bis 2015 ins Internet zu stellen. Was die Berliner Historikerin Susanne Willems zum Einwurf veranlasste: »Ich finde es sehr problematisch, wenn NS-Dokumente unkommentiert allen zugänglich sind.«
Auch Martin Seckendorf polemisierte gegen die Präventivkriegsthese, die sogar ein Generalinspekteur der Bundeswehr, der 2006 verstorbene Ex-Condor-Legionär Heinz Trettner verbreitet hat: Der Krieg sei der Wehrmacht aufgezwungen worden. Seckendorf betonte, in der deutschen Militärführung bestand Konsens, dass die Zerschlagung der Sowjetunion notwendig und möglich sei. Das Oberkommando legte konkrete Planungen vor, als Hitler sich noch nicht definitiv entschieden hatte.
Also Hitler und das Militär drängten zum Krieg. Und wie verhielt es sich mit »den« Deutschen? Die Mehrheit habe ihn nicht gewollt und nicht erwartet, so Pätzold. Es gab keine begeisterten Kundgebungen wie 1914. Die anfänglichen »Blitzsiege« suggerierten ein schnelles Ende des Krieges. Nach dem 22. Juni 1941 dämmerte es jedoch den Deutschen: Er wird wohl doch länger dauern. Die Mehrheit verband damit die bange Frage: »Warum verteidigen sich die Russen so zäh?« Mehrfach wurde auf dem Kolloquium konstatiert, dass die Niederlage der Aggressoren sich nicht dem »russischen Winter« und nicht »fanatischer Kommissare«, die Rotarmisten immer wieder ins Gefecht trieben, auch nicht dem »höllischen Regime« in Stalins Sowjetunion verdankte, sondern dem Wille und Widerstand der Sowjetvölker.
Alexander Friedman aus Minsk, zur Zeit in Heidelberg, bekräftigte: Die Grausamkeit und Erbarmungslosigkeit, mit der die Eroberer in Belorussland Juden ermordeten, Städte bombardierten und auf Zivilisten schossen, habe die anfänglich zwiespältige Stimmung in der belorussischen Bevölkerung gewandelt. Nicht nur Juden, Kommunisten und parteilose Bolschewiki, auch Gegner der Sowjetmacht und Opfer Stalinscher Repressalien verteidigten das Vaterland. Belorussen, die die Deutschen als »Erlöser« begrüßten, beteiligten sich bereits im Sommer 1941 an deren Verbrechen. Robert Waite aus New York berichtete über die große Anteilnahme der Bevölkerung der USA am Krieg im Osten. Laut einer Umfrage 1941 wünschten sich trotz antikommunistischer Ressentiments 72 Prozent der US-Bürger den Sieg der Sowjetunion, denn diese sei nicht imperialistisch und würde die USA nie angreifen; Hitlerdeutschland jedoch traute man dies zu.
Polemisiert wurde auf dem Kolloquium gegen die einseitige Kennnzeichnung des Krieges im Osten als »rassistischen Vernichtungskrieg«. Am 22. Juni 1941 begann ein imperialistischer Eroberungskrieg zur Schaffung eines deutschen Ostimperiums, bei dem sich Antikommunismus, Antislawismus und Antisemitismus verbanden. Diese Ansicht teilten die Zeitzeugen: der Rotarmist jüdischer Herkunft Jacob Resnik, der ehemalige Wehrmachtssoldat und Mitbegründer des Nationalkomitees »Freies Deutschland« Ferdinand Thun sowie der gebürtige New Yorker Victor Grossman, der als Schüler mit dem Abwehrkampf der Sowjetunion gefiebert hatte.
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