Aufklärung über Erika Mustermann

Begegnung mit der deutschen Durchschnittsfrau. Sie repräsentiert Millionen, doch es gibt sie kein einziges Mal

  • Eckart Roloff
  • Lesedauer: 6 Min.

Zugegeben, ich habe sie nie gesehen, nie gesprochen. Aber ich weiß fast alles von ihr, selbst Intimes. Etwa das: Fast eine Woche ihres Lebens hat sie geküsst. Und sie weint vier- bis fünfmal häufiger als ihr Mann. Natürlich hat sie einen Mann, so wie die meisten Frauen. Mit 26 bekam sie ihr (einziges) Kind. Sie hat Schuhgröße 38/39, Blutgruppe A, Rhesusfaktor positiv. Ihr Leukozythen-Wert liegt bei 8500, der für das Gesamt-Cholesterin bei 180, Blutzucker nüchtern 80 bis 100. Sie ist 44,3 Jahre alt und 167 cm groß. Ihre Oberbekleidungsmaße lauten nach DIN 33402 entgegen dem vielzitierten Ideal nicht 90 – 60 – 90, sondern 99 – 83 – 104. Das alles ist die Norm. Sie ist die Norm. Ihr Name laut unzähliger Papiere: Erika Mustermann.

Wo sie wohnt? Natürlich in der größten Stadt des Landes, in Berlin, und dort mit der Schönhauser Allee in einer der längsten Straßen des größten Bezirkes, nämlich Pankow, wie die meisten im Ortsteil Prenzlauer Berg. Sie wohnt mit Mann Max und Tochter Lisa zur Miete auf 88 Quadratmetern. Ihr Beruf: Bürofachkraft mit abgeschlossener Ausbildung (die sie, wäre sie eine Westdeutsche, eher nicht hätte). Der Stundenverdienst liegt bei brutto 13,90 Euro. Jedenfalls haben Statistiker das als Durchschnitt für alle Frauen festgestellt. »Für mich stimmt das nicht«, sagt sie. Im Westen würde sie übrigens mindestens sechs Prozent mehr bekommen – und als Mann ein Plus von etwa 25 Prozent.

Ich weiß noch mehr von ihr: Pro Tag liest sie 23 Minuten Zeitung, sie hört 189 Minuten Radio und ist 221 Minuten beim Fernsehen dabei. Sie raucht nicht. Sie mag gern Pizza. Ihre Favoriten für den Urlaub heißen Spanien, Ostsee und Bayern. Weil sie Deutsche ist, wählt sie, der Mehrheit folgend, die CDU. Doch sie ist Berlinerin, also wählt sie SPD. Oder Die LINKE. Da wird es schwierig. Welche Vorgabe ist dafür maßgebend?

Je mehr wir ihr Profil auffächern, umso reizvoller wird diese Frage: Gibt es all die Daten dieser Muster-Frau nicht schon komplett dargestellt, etwa in einer Broschüre des Statistischen Bundesamtes? Die wissen so viel über uns, weiß ich, und die errechnen bestimmt gern solche Mittelwerte; nicht nur Journalisten mögen dergleichen. Für Norwegen bin ich auf eine solche Kollektion gestoßen; sie rückt die Durchschnittsnorweger, Nord- mann genannt, ins Zentrum. Die Frau heißt Kari mit Vornamen, der Mann Ola.

Ein Heft des Statistisk Sentralbyrå in Oslo stellt übersichtlich zusammen, was die beiden Mustermenschen kennzeichnet, nach Ausbildung, Einkommen, Freizeit, Besitz und so fort. Diese Daten sind auch deshalb bemerkenswert, weil es im egalitär orientierten Norwegen als positiv gilt, Teil des Durchschnitts zu sein; man strebt kaum danach, sich von ihm abzusetzen. Natürlich gibt es abweichende Einkommen, das ist gar kein Geheimnis: Sie werden sogar für jeden Steuerzahler in Listen publik gemacht, die auch Ausländer einsehen können.

Als ich vor längerer Zeit nach geballten Durchschnittswerten für Deutsche fragte, kam aus Wiesbaden diese Antwort: »Dazu gibt es keine Sammlung.« Warum nicht? »Weil der Durchschnitt statistisch uninteressant ist.« Ich war verblüfft. Kürzlich wieder nachgefragt, kam ein ähnlicher Bescheid. Zwar bekomme man »häufig Anfragen zum Thema ›Typisch Deutsch‹«, doch gebe es dazu »bedauerlicherweise« – immerhin das – »keine Veröffentlichung, denn das Statistische Bundesamt beschränkt sich auf die Darstellung von Massenerscheinungen«. Und das zu Zeiten der Volkszählung, des Zensus 2011, mit Individuen als Datenlieferanten! Gleichwohl wurde versprochen, meine Anregung weiterzureichen.

In Deutschland kennt man neben dem Namen Mustermann, der oft auf Vorlagen von Formularen und Ausweisen steht, weitere Benennungen für Personen aus der Mittelschicht. Der bekannteste ist Otto Normalverbraucher, auch wenn niemand wirklich so heißt. Er kam durch einen alten Film mit Gert Fröbe auf und stand für einen Soldaten, der nach dem Weltkrieg ins zertrümmerte Berlin zurückkehrte. Heute umfasst dieser Name Millionen Menschen. Das ausdrücklich weibliche Pendant heißt meist Lieschen Müller.

Und wie ist das anderswo? Wie nennt man die Normalverbraucher dort? Schauen wir dazu noch einmal auf den Norden unseres Kontinents. In Island hilft man sich mit gängigen Namen: Der Standard-Isländer heißt Jón Jónsson, der Schwede an sich Kalle oder Sven Svensson, das dänische Paar hr. und fru Jensen; es dürfen auch Hansens und Sörensens sein. In Finnland klingt das ganz anders: Meikäläinen ist dort der Modellnachname (zu deutsch etwa Unsereiner).

Im Süden Europas nennen etwa die Spanier ihren Normalkonsumenten Juan Espanol oder Pepe Pérez. Die Dame dazu heißt Pepa. Beim portugiesischen Nachbarn lautet der Name Nummer eins Silva; es kann auch ein Manuel Dos Santos oder Zé Ninguém (für Josef Niemand) sein. Auf den Nachnamen Pérez für ein Allerweltswesen stößt man auch in vielen Staaten Südamerikas.

In Italien steht Mario Rossi besonders gern für den Standardmenschen und auf Musterformularen. Und ein Signor Fantozzi, Ugo mit Vornamen, gibt den typischen Kleinbürger, wie ihn der Komiker Paolo Villaggio von 1975 an in vielen populären Filmen unter das Volk brachte. Bei den Türken ist der vielzitierte Mann auf der Straße als Sokaktaki Adam oder Sade Vatandas unterwegs.

Die Schweiz hat diese Lösung gefunden: Ihr Normalbürger firmiert unter Bünzli (das Adjektiv bünzli bedeutet langweilig, spießig, bieder – ein Treffer an Selbstironie)! Häufige Standardnamen sind ferner Hans Schweizer, Max und Erika Muster sowie Frau Stirnimann. In Österreich ist praktischerweise oft von einem Herrn oder einer Frau Österreicher die Rede.

Der russische Mann nach Maß wird Iwan Iwanow (auch Sidorow und Petrow) genannt. Sein Pendant in Kanada und auf Neuseeland hingegen hört auf John Doe, in den USA ebenfalls, aber auch auf John Average – das klangvolle Wort für Durchschnitt. Dafür gibt es ferner die Varianten Joe Sixpack, J. Random User und John Q. Taxpayer. Das betont dessen Rolle als Steuerzahler. Bei den Briten hat man die Auswahl zwischen John Smith, John Brown, Joe oder Fred Bloggs und Joe Public. Auf Musterformularen findet sich manchmal der und die geschlechtslose A. N. Other.

In Polen wird der Durchschnittsbürger reichlich trocken als der »gewöhnliche Brotesser« oder »Graubürger« bezeichnet; die häufigsten Musternamen lauten Jan Kowalski und Jan Nowak. Als Jan Novák kennen ihn die Tschechen, als Janez Novak die Slowenen. Im Niederländischen findet sich der Standardname Jan Janssen, im Französischen ein Monsieur Dupont oder Durand als Passepartout. In Luxemburg geht es auf Vordrucken etwa von Banken meist um Jempi Guddekaf – Jempi ist ein häufiger Vorname, und Guddekaf wird von »guter Kauf« abgeleitet. Die Japaner umschreiben ihr Normalmaß als den »allgemeinen Menschen«. Der Mustermann heißt Suzuki Tano oder Yamada Hanako.

So einfallsreich die Namen für die Menschenmengen der Mitte sind – wie oft gibt es diese Massen? Wie viele passen exakt in das Raster nach dem durchschnittlichen Alter, einem normalen Wohnort, dem üblichen Gehalt und Familienstand, einer Ausbildung nach Mittelmaß? Je mehr Kriterien herangezogen werden, umso differenzierter wird die scheinbar gleichförmige Menge.

Jeder und jede ist anders, niemand lässt sich so einfach zu einem uniformen XY, einem uninteressanten Hinz und Kunz stempeln. Und unsere Erika Mustermann gibt es laut Telefonauskunft in Deutschland nur zweimal – einmal in Siegen, einmal in Augsburg. Also nicht einmal in Berlin.

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