Die Revolution geht weiter
Die Bloggerin Lina Ben Mhenni – »A Tunesian Girl« – über den Arabischen Frühling und die Macht des Internets
ND: Sie können stolz sein, sind Sie doch eine Heldin der Revolution.
LINA BEN MHENNI: Nein, ich bin keine Heldin. Nicht ich habe die Revolution begonnen. Als sich Mohamed Bouazizi vor dem Amtssitz des Gouverneurs von Sidi Bouzid selbst angezündet hat, sind die Menschen seiner Heimatstadt auf die Straße gegangen. Ihr Protest gegen einen unbarmherzigen Herrscher war die Initialzündung. Sie sind nicht vor der Gewalt der Polizisten gewichen. Das sind für mich die Helden der Revolution.
Ich habe nur Informationen gesammelt und publik gemacht. Wie andere Blogger auch. Die Revolution auszulösen war eine kollektive Errungenschaft. Es gibt keine einsamen, einzelnen Helden.
Wie haben Sie vom tragischen Tod Bouazizis erfahren?
An jenem 17. Dezember 2010 war ich bei Laila Ben Debba, einer couragierten Anwältin in Tunis. Wir saßen in ihrer Küche vor unseren Laptops, als wir die schlimme Nachricht erhielten. Von Anwaltskollegen erfuhr Leila von den spontanen Demonstrationen vor dem Gouverneurssitz in Sidi Bouzid. Am 19. Dezember schrieb ich meinen ersten Blogeintrag »Sidi Bouzid brennt«. Ich schrieb über die Wut und die Entschlossenheit der Menschen, nicht mehr all das Unrecht schweigend hinzunehmen, über die gewaltsamen Reaktionen der staatlichen Organe und über die ersten Toten. Ich lebte nur noch für Sidi Bouzid.
Ab 8. Januar war ich dann selbst dort. Ich habe Aufnahmen von der Stelle vor dem Gouverneurssitz gemacht, wo sich Bouazizi verbrannt hatte, und sprach mit den Menschen. Ich fuhr in das 40 Kilometer entfernte Regueb, wo fünf junge Männer von der Polizei erschossen worden waren. Im Haus von Nizar Ibrahim Slimi hielt die Familie Totenwache. Ich fragte nicht, wurde aber von der Mutter ausdrücklich aufgefordert, ihren toten Sohn zu fotografieren. Eine Kugel hatte ihn mitten ins Herz getroffen. Ich war entsetzt und kannte nur noch eine Aufgabe: die Morde, für die Ben Ali und seine Leute verantwortlich waren, anzuklagen. Die staatlich kontrollierten, abhängigen Medien berichteten ja nicht darüber.
Hatten Sie keine Angst, sich mit der Macht anzulegen?
Natürlich hatte ich Angst. Das ist doch menschlich. Aber wenn man von etwas überzeugt ist, kann man nicht anders. Ich bin schon längere Zeit im Visier der staatlichen Organe. Im April vorigen Jahres wurde im Haus meiner Eltern eingebrochen, man hat meine beiden Laptops, den Fotoapparat und die Filmkamera gestohlen. Das war die politische Polizei. Wir haben damals gegen die Zensur im Internet protestiert. Und auch jetzt wurde wieder versucht, uns mundtot zu machen, uns am Zugang zu Informationen und deren Weiterverbreitung zu hindern. Aber diesmal erfasste die Protestbewegung alle sozialen Schichten.
Vor dem Suizid von Mohamed Bouazizi hat es in Tunesien schon zahlreiche Selbstmorde aus Not und Verzweiflung gegeben. Was machte den Unterschied, weshalb geriet diesmal eine ganze Gesellschaft in Aufruhr?
Es kamen viele Faktoren zusammen. Dazu gehört auch, dass die Vereinten Nationen 2010/11 zum Internationalen Jahr der Jugend erklärt haben.
Es steht unter dem Motto »Dialog und gegenseitiges Verständnis« und soll zwischen den Generationen vermitteln und Solidarität miteinander befördern.
Unsere Medien waren voll von Propaganda. Hohle Phrasen, die nichts mit der Wirklichkeit zu tun hatten, die wahre Lage der Jugend in unserem Land ignorierten. Die Mehrheit der Jugendlichen ist arbeitslos und ohne Perspektive.
Es begann als eine Revolte der Jugend ...
... der sich alle Generationen anschlossen. Die schwierige ökonomischen Lage und die sozialen Probleme betreffen alle Tunesier, bis auf eine kleine Minderheit. Außerdem waren die Menschen auch nicht mehr gewillt, Gewalt und Repression, die Zensur und die grassierende Korruption noch länger zu erdulden.
Wo waren Sie am 14. Januar, am Tag der Entscheidung?
In Tunis. Ich bin mit meinen Freunden zur großen Protestkundgebung auf dem Mohamed-Ali-Platz gegangen. Wir zogen dann über die Avenue Habib Bourguiba zum Innenministerium. Bis dahin war alles friedlich. Dann aber sind Polizisten mit Tränengas gegen uns vorgegangen. Und es fielen Schüsse. Wir rannten um unser Leben. Am Abend hörten wir die befreiende Nachricht: Ben Ali ist geflohen. Es war also nicht umsonst.
Eben fiel der Name von Habib Bourguiba, dem ersten Staatspräsidenten des unabhängigen Tunesien. Er hat die Monarchie abgeschafft und Sozialismus deklariert. Hat er quasi posthum die Jasmin-Revolution mit beeinflusst?
Obwohl er unserem Land die Unabhängigkeit gebracht hatte, war auch er ein Diktator. Als Ben Ali ihn am 7. November 1987 stürzte, hat nur ein Diktator einen anderen ersetzt. Das dürfen wir nicht vergessen. Mein Vater saß als Linker sechs Jahre – von 1974 bis 1980, also unter Bourguiba – im Gefängnis. Der neue Premierminister ist ein Bourguiba-Mann. Man sagt zwar, Bourguiba weilt noch unter uns. Aber eben das wollen wir nicht. Wir wollen ein neues Tunesien, ohne die alten Ikonen und Symbole. Wie wollen andere, unsere eigenen Wege gehen.
Und die neuen Ikonen sind Mohamed Bouazizi, Nizar Ibrahim Slimi und andere Tote, die Ben Alis Regime auf dem Gewissen hat?
Ich würde nicht von Ikonen sprechen. Sie werden als Märtyrer in unserem Gedächtnis bleiben. Wir werden sie nicht vergessen.
Wie wichtig sind Märtyrer für eine Revolution?
Ihr Tod hat den Hass auf das Regime bestärkt, hat den Menschen den nötigen Zorn und die nötige Energie gegeben, für einen Wechsel zu kämpfen.
Sind Sie denn eigentlich zufrieden mit den Ergebnissen der Jasminrevolution?
Überhaupt nicht.
Warum nicht? Weil die Arbeitslosigkeit nicht beseitigt ist?
Nicht nur die Arbeitslosigkeit, auch andere soziale Probleme sind nicht beseitigt. Das geht ja auch nicht von einem Tag auf den anderen. Aber wir haben auch noch nicht wirklich Redefreiheit. Es kann zwar jeder sagen, was er will. Doch in den Medien hat sich nichts geändert, sie werden nach wie vor von den alten Kräften dominiert. Sie manipulieren im Interesse der Konterrevolution. Wir haben noch keine unabhängige Justiz. Und es ist uns nicht gelungen, die Gewalt der Polizei zu stoppen. Es mangelt außerdem weiterhin an Transparenz in den Verwaltungen.
Die Revolution geht also weiter?
Ja. Die Revolution muss weitergehen.
Wieviele Menschen sind für die Jasmin-Revolution gestorben?
Mehr als 300
Sie sind in einer politisierten Familie aufgewachsen. Das dürfte nicht auf die Mehrheit der Tunesier zutreffen, die Anfang des Jahres Straßen und Plätze eroberten.
Sie alle litten unter dem Regime. Und sie haben das Blut gesehen, waren entsetzt, dass Tunesier durch Tunesier getötet wurden. Das hat sie empört. Dazu bedurfte es keiner politischen Bildung.
Werden sie aber auch die Geduld und den gemeinsamen Willen aufbringen, dessen es bedarf, um eine Revolution fortzuführen?
Es stimmt, wir sind nicht mehr vereint wie am Anfang. Es gibt verschiedene Strömungen, islamische, säkulare, diverse politische Parteien und Organisationen. Wir rufen alle am Wohl unseres Landes interessierten Kräfte, ungeachtet ihres Glaubens, ihrer sozialen oder politischen Zugehörigkeit, zum gemeinsamen Handeln auf.
Gibt es in Tunesien eine reale islamistische Gefahr?
Ja, die Gefahr einer radikal-islamistischen Diktatur ist real. Die Mehrheit der Tunesier sind moderate Muslime, die die persönliche Freiheit des Anderen respektieren. Sie wollen nicht von radikalen Islamisten regiert werden.
Welche Rolle spielte respektive spielt die palästinensische Frage in der Jasmin-Revolution?
Eine sehr große. Unsere Revolution will dem palästinensischen Volk helfen, endlich einen eigenen Staat zu gründen. Wir haben eine große Verantwortung für Palästina.
Welche Lösung sehen Sie für den Konflikt in der Nahost-Region?
Oh, das weiß ich wirklich nicht. Ich bin keine Politikern, habe keine strategischen Lösungsvorschläge. Ich sehe, wie die Palästinenser leiden. Die Achtung der Menschenrechte ist für mich das Wichtigste; sie werden jedoch den Palästinensern noch immer vorenthalten. Sie können sich nicht frei bewegen, nicht in Würde leben, sind nicht ihr eigener Herr. Das ist eine schlimme, untragbare Situation. Alle freiheits- und friedliebenden Menschen müssen ihnen helfen.
War es richtig, dass die NATO in Libyen intervenierte, um – wie es hieß – die Revolutionäre dort zu unterstützen?
Ich bin gegen jede Form von Gewalt. Auch wenn diese dazu dienen soll, Gaddafi zu stürzen. Wenn dabei Zivilisten sterben, ist dies unakzeptabel. Die internationale Gemeinschaft hätte früher reagieren können, Druck auf Gaddafi ausüben müssen, ohne Gewalt. Warum hat man dies nicht getan? Es sind immer die ökonomischen Interessen. Auch Ben Ali wurde bis zuletzt gestützt. Bedauerlicherweise hat der Westen seine Lektion nicht gelernt, unterstützt immer noch Diktaturen.
Auch mit modernem Kriegsgerät.
Ja, leider. Wir wollen auch keine vorschnelle Anerkennung der Zustände, die wir in Tunesien nach dem Sturz von Ben Ali haben. Bis zu den Wahlen haben wir eine Zwischenregierung, die nicht vom Volk legitimiert ist und kein Recht hat, Entscheidungen für uns treffen.
Die Arabische Revolution begann in Tunesien. Liegt das an einem besonderen Widerstandsgen, der den Tunesiern eigen ist seit den Tagen des antiken Karthagos, seit Hamilkar Barkas und dessen noch berühmterem Sohn Hannibal?
Das glaube ich nicht. Wir sind ein buntes Volk, von vielen Völkern beeinflusst: von Phöniziern, Römern, Berbern, Iberern und seit dem 7./8. Jahrhundert auch von Arabern.
Erfuhr die Jasmin-Revolution Unterstützung aus Frankreich, dem ehemaligen Kolonialland?
Nein. Überhaupt nicht. Die Position der französischen Regierung war schändlich und beschämend.
Wie erklären Sie sich dies?
Es liegt daran, dass Frankreich auch keine richtige Demokratie ist und ebenso reif für eine Revolution wäre. Aber das ist Sache der Franzosen.
Kann man die Arabische Revolution mit der Großen Französischen Revolution von 1789 vergleichen? Es geht doch wie damals um den Sturz absolutistischer Herrscher sowie um Menschen- und Bürgerrechte.
Ich weiß nicht. Die Jasmin-Revolution war eine originäre tunesische Angelegenheit. Sie war nicht geplant. Ich würde sie mit keiner anderen Revolution vergleichen.
Kann man tunesische und ägyptische Revolution vergleichen?
Es gibt viele Gemeinsamkeiten, aber auch viele Unterschiede.
Zum Beispiel?
Unsere Revolution wurde nicht über die Internet-Plattform Facebook organisiert. Unsere Blogs dienten der Kommunikation. Das Internet war nur ein Werkzeug. In Ägypten war es anders. Die Aufrufe zu den Demonstrationen wurden dort im Internet gestartet.
Wie stand es um den Beistand durch die globale Netz-Gemeinde für die Jasmin-Revolution?
Die war groß. Anonymous hat uns schon Anfang Januar Solidarität bekundet und Internetseiten von Regierungsstellen attackiert. Das war hilfreich. Vorher waren wir selbst Objekt der Angriffe von Cyberpolizei der Regierung gewesen; nun war es umgekehrt.
Wer ist Anonymous?
Ein Hackerkollektiv von rund 9000 Personen weltweit. In Spanien konnten drei anonyme Cyber-Aktivisten identifiziert werden; sie wurden verhaftet und zu drei Jahren Gefängnis verurteilt.
Anfang des 20. Jahrhundert haben revolutionäre Ereignisse in Europa die Freiheitsbewegungen in den Kolonien inspiriert. Heute scheint es umgekehrt zu sein. Hat die Arabische Revolution die Proteste in Spanien beflügelt?
Ja, davon bin ich überzeugt. Wie auf dem Tahrir-Platz in Kairo haben sich die Demonstranten auf dem Sanyatara-Platz in Madrid über Facebook eingefunden.
Der Arabische Frühling zeigte, dass per Internet Regierungen gestürzt werden können. Virtuelle Macht kann in materielle Gewalt umschlagen. Aber via Internet ist bisher noch keine neue Gesellschaft erschaffen worden. Auch in Tunesien nicht.
Weil der alte Unterdrückungsapparat noch immer da ist. Es sind doch nur Personen an der Spitze ausgetauscht worden. Das Internet kann über Grenzen und Verbote hinweg Menschen verbinden. Deshalb fürchten Diktatoren das Netz. Das Internet schafft Solidarität. Und das ist eine der wichtigsten Voraussetzungen, um die Welt zu verändern, sie zu verbessern. Deshalb sollten wir uns alle vernetzen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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