Ein »nuklearer Schirm« ohne Schutz
Die USA wollen ihre Kernwaffen in Deutschland und Europa durch ein teures Atomprogramm modernisieren
Noch immer sollen nach Expertenschätzungen in Europa 200 US-amerikanische Atomwaffen lagern.
Selbst Gottes Beistand hat Elke Koller bei ihrer Klage gegen die bis zu 20 nuklearen Sprengköpfe, die über zwei Jahrzehnte nach Ende des Kalten Krieges weiter auf deutschem Boden vermutet werden. Denn auch die Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) fordert nachdrücklich den umgehenden Abzug der verbliebenen US-amerikanischen Atombomben aus Europa. Ihre Abrüstung wäre ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur nuklearwaffenfreien Welt.
Wie viele es genau sind, darüber gibt es keine offiziellen Angaben. In der von Wikileaks enthüllten geheimen Korrespondenz von USA-Diplomaten wird zumindest die Existenz dieser taktischen Kernwaffen erwähnt. Dabei gilt wohl für alle betroffenen Länder, was die flämische Tageszeitung »De Standaard« mit Blick auf Belgien schrieb: »Die Präsenz von amerikanischen Atomwaffen in Kleine Brogel (einem Militärstützpunkt in Flandern) war für die lokale Bevölkerung ein offenes Geheimnis.« Militärexperten vermuten 200 dieser Bomben in fünf europäischen NATO-Staaten (siehe Tabelle).
Washington verfügt nach Schätzungen über insgesamt etwa 1200 nichtstrategische Atomwaffen, für Moskau schwanken die Angaben zwischen 4600 und 8000. Das russische Militär will damit die nach der Ostausdehnung des Nordatlantik-Paktes bis an die Grenzen Russlands entstandene NATO-Überlegenheit bei konventionellen Waffen ausgleichen.
Für den Berliner Friedensforscher Otfried Nassauer gibt es keine überzeugenden Argumente, weiterhin USA-Atomwaffen in Deutschland und Europa zu stationieren. Der »nukleare Schirm«, ein Überbleibsel aus der Ära des Kalten Krieges, biete letztlich keinen Schutz, so der Leiter des Berliner Informationszentrums für Transatlantische Sicherheit (BITS) in einer Studie. Auch der Bundestag hat sich im vergangenen Jahr mit großer Mehrheit für einen Abzug der Waffen aus Deutschland ausgesprochen und die Bundesregierung aufgefordert, sich in der NATO und direkt in Washington »mit Nachdruck« dafür einzusetzen. Eine einseitige Aufgabe der »nuklearen Teilhabe« Deutschlands (siehe Lexikon) allerdings wagte man nicht.
Laut einer Studie der niederländischen Sektion von Pax Christi befürworte eine große Mehrheit der Allianz-Mitglieder inzwischen einen solchen Abzug, dem sich der NATO-Gipfel im Vorjahr aber verweigert hat. Mehr noch, die USA wollen ihre in Europa gelagerten Atomwaffen mit einem teuren Programm zur Verlängerung der Nutzungsdauer umfassend modernisieren. So soll auf Basis des Modells B61-4, von dem nach Schätzungen von Experten bis zu 20 Sprengköpfe auf dem Fliegerhorst des Jagdbombergeschwaders 33 im Eifeldorf Büchel lagern, eine neue Bombe mit der Bezeichnung B61-12 konstruiert werden. Dabei will man die Bomben vor allem mit steuerbaren Heckflossen versehen, damit sie künftig gezielter einsetzbar sind. Das erste Exemplar könne laut Washingtoner Rechnungshof im Jahr 2017 bereit stehen, danach soll die Serienfertigung beginnen.
Glaubt man dem Report des Rechnungshofes an die Kongressabgeordneten, werde dieses »life extension program« die »komplexeste Anstrengung zur Lebensverlängerung sein, die je unternommen wurde«. Unabhängige Analysten in den USA haben die Pläne des Pentagons schon massiv kritisiert. Ginge es nach den Militärs, müsste der Kongress für die nächsten zehn Jahre 213 Milliarden US-Dollar für eine Modernisierung der atomaren Arsenale samt Trägerwaffen bewilligen. Nicht nur David Krieger, der Direktor der »Nuclear Age Peace Foundation«, befürchtet, dass die Mehrheit der Parlamentarier wie die Regierung in Washington die Begründung nicht hinreichend hinterfragen werden.
Besonders kritisch sieht er die Planungen für atomar bestückte Drohnen. Derartige Waffen seien geradezu eine Einladung an andere Staaten zur nuklearen Aufrüstung. Seine Stiftung ist Teil der »Middle Powers Initiative« (MRI), ein Dachverband internationaler Abrüstungsorganisationen, die ein unumkehr- und einklagbares Atomwaffenverbot fordern. Denn »die fortgesetzte Existenz von Atomwaffen bedroht uns alle und birgt unannehmbare Risiken«, wie der australische MRI-Vorsitzender Richard Butler betont, der einst für die Vereinten Nationen als Atomwaffeninspekteur tätig war.
Lexikon: Nukleare Teilhabe
In Zeiten des Ost-West-Konflikts war Europa regelrecht von Atomwaffen übersät. Die USA verlegten sie ab 1953 auch in die Bundesrepublik, zunächst Atomgeschütze (Atomic Annie), später atomare Fliegerbomben, Granaten, Raketen und Atomminen. Bundeskanzler Adenauer forderte sogar die Ausrüstung der Bundeswehr mit taktischen Atomwaffen. Wie Alt-Kanzler Schmidt bestätigte, wurden ab Mitte der 60er Jahre in der BRD heimlich etwa 700 Atombomben gelagert. In der DDR waren seit 1958 sowjetische nukleare Trägermittel vorwiegend in den brandenburgischen Wäldern stationiert.
In der NATO wurde für die USA-Atomwaffen in Europa das Konzept der »nuklearen Teilhabe« entwickelt, das Mitglieder ohne eigene Kernwaffen in die Planung der NATO und den Einsatz der Waffen einbezieht. Dazu gehört, dass sie auf ihrem Territorium Kernwaffen lagern und geeignete Flugzeuge bereithalten. Im Kriegsfall könnten Teilhabestaaten wie die Bundesrepublik dann unter USA-Kontrolle Atomwaffen einsetzen. Die Bundeswehr trainiert in Büchel nach wie vor ihren Einsatz durch Kampfbomber vom Typ »Tornado«.
Sta
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