»Nationale Tragödie« im Ferienidyll

Norwegen trauert um Opfer des Massenmords und fragt sich, wie es dazu kommen konnte

  • Hans-Gerd Öfinger, Bergen
  • Lesedauer: 3 Min.
Nach dem lähmenden Schock, den das doppelte Massaker am Freitag ausgelöst hatte, begannen die Norweger im Laufe des Wochenendes Trauer und Mitgefühl auszudrücken. Überall sprechen Menschen von der »nationalen Tragödie«. Die Flaggen wehen auf Halbmast, Sport- und Festveranstaltungen wurden abgesagt.
Rettungskräfte bergen traumatisierte Überlebende des Massakers auf der Insel Utøya. Am Sonntag wurden immer noch einige Jugendliche vermisst. Fotos: AFP
Rettungskräfte bergen traumatisierte Überlebende des Massakers auf der Insel Utøya. Am Sonntag wurden immer noch einige Jugendliche vermisst. Fotos: AFP

Auch in der traditionsreichen Hansestadt Bergen, Norwegens zweitgrößter Stadt, kommen Menschen aller Generationen zu einem Denkmal am zentral gelegenen Øvre-Ole-Bulls-Platz, legen Blumen nieder und zünden Kerzen an. Die örtliche sozialdemokratische Arbeiterpartei und antirassistische Gruppen hatten für das Wochenende zu Trauerversammlungen und Mahnwachen aufgerufen.

»So ein Massaker hat dieses Land in Friedenszeiten noch nie erlebt«, sagt Issam Aarag, ein Mann um die 40, der das Abzeichen der Arbeiterpartei an der Jacke trägt. »Ich wusste, dass wir in Norwegen Feinde haben. Man kennt sich«, gesteht er, aber dass in diesem als liberal geltenden Land ein offensichtlich von der politischen Rechten motivierter Täter so kaltblütig Teenager abschlachten würde, schien auch den größten Pessimisten unvorstellbar – bis zu diesem schwarzen Freitag, dessen überlebende Augenzeugen noch über Jahre traumatisiert sein dürften.

Issam Aarag ist in mehrfacher Hinsicht nah am Geschehen. Er hat eine schlaflose Nacht hinter sich und kann nur mit Mühe seine Tränen unterdrücken. Er war selbst Funktionär des sozialdemokratischen Jugendverbands und gehörte zu den Organisatoren der traditionellen Sommerlager auf der idyllischen Ferieninsel Utøya etwa 40 Kilometer westlich von Oslo. Seine Tochter ist 14 und wollte im kommenden Jahr erstmals am Camp teilnehmen. »Kein Platz auf Erden ist sicherer als diese Insel«, hatte er ihr erst unlängst eine Reise dorthin empfohlen. Aus Hordaland, der Region um Bergen, waren in diesem Jahr 25 Jugendliche auf Utøya. Zur Stunde ist noch ungewiss, ob alle von ihnen überlebt haben.

Partei- und Regierungschef Jens Stoltenberg selbst hatte seit 1974 jedes Jahr an den Sommercamps teilgenommen – ursprünglich als junges Mitglied, später als die Nr.1 der Partei. Auch an diesem Sonnabend wollte er den Parteinachwuchs auf der Insel besuchen und mit einer Ansprache vor großem Medienaufgebot den Wahlkampf für die Kommunal- und Regionalwahlen im September eröffnen. Noch wenige Stunden vor dem Massaker hatte die Parteijugend Besuch von Gro Harlem Brundtland, Stoltenbergs Vorgängerin in den 80er und 90er Jahren. Mit über 5000 aktiven Mitgliedern ist die sozialdemokratische AUF die stärkste Jugendorganisation im Fünf-Millionen-Land Norwegen, das derzeit von einer rot-rot-grünen Koalition aus Sozialdemokraten, sozialistischer Linkspartei und bäuerlicher Zentrumspartei regiert wird.

Wie viele andere macht sich auch Issam Aarag Gedanken darüber, wie es zu den Massakern kommen konnte. Nach dem Anschlag in Oslo hatten zunächst Spekulationen über eine Al-Qaida-Urheberschaft die Runde gemacht. Vor allem in westlichen Hauptstädten außerhalb Norwegens fanden sie ihren Nährboden. Das offizielle Oslo warnte schon am Freitag vor derartigen Schnellschüssen. Rasch wurde denn auch klar, dass der 32-jährige Attentäter Anders Behring Breivik einen rechtsextremen Hintergrund hat. Von 1999 bis 2007 war er auch Mitglied der rechtspopulistischen Fortschrittspartei (Fremskrittspartiet) und ihres Jugendverbandes. Die Partei bildet im Storting, dem Osloer Parlament, derzeit die zweitstärkste Fraktion, in Bergen und Oslo ist sie zusammen mit anderen bürgerlichen Parteien an der Stadtregierung beteiligt. Parteichefin Siv Jensen bestätigte Breiviks ehemalige Mitgliedschaft, zeigt sich darüber jedoch höchst betrübt. Andere Meldungen besagen, dass der Attentäter auch Kontakte zur schwedischen Neonaziszene pflegte.

Aber war es tatsächlich ein Einzeltäter, der sich Waffen, Polizeiuniform und Dienstausweis besorgte, die gesamte Logistik und die doppelte Bluttat organisierte und alles kaltblütig und dreist durchzog – oder hatte er nicht noch Komplizen? Und wieso dauerte es anderthalb qualvolle Stunden, bis die Sicherheitskräfte am Tatort waren? Fragen, die nicht nur die Norweger noch lange beschäftigten dürften.

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