Die Idylle umflort
Die skandinavische Idylle ist umflort. Aber schon jetzt darf der Eindruck geäußert werden: Der Täter von Oslo dient in den einschlägigen Kommentaren vor allem der Munitionierung des handelsüblichen Politkampf-Vokabulars: erst Islamhass, dann christlicher Fundamentalismus, dann Rechtsextremismus, Linkenfeindlichkeit, dazu die national-soziale Schieflage – die Begriffe umschwirren eine fortwährende Sehnsucht nach eindeutigen Festlegbarkeiten; und prompt findet jede politische Seite ein passendes Angebot, um den Irren von Oslo als Bestätigungsmonster der eigenen Gesellschaftanalyse zu nutzen. Jetzt wird es wieder gegen Schützenvereine gehen, gegen Computerspiele, überhaupt gegen den Sog des Netzes, gegen die gesammelten Unaufmerksamkeiten einer nur immer mit sich selbst beschäftigten Mit-Welt.
Wir nennen es Terror, und wir verkrampfen in der unbedingten Gier, das Grauenhafte in eine Logik zu zwingen. Vielleicht aber ist es nicht so einfach, wie die hektische, schablonisierte Motivsuche es weismachen will, vielleicht ist es nämlich viel einfacher: Ein abnorm Strukturierter folgt seinem Wesen, und natürlich lässt er sich von einer Philosophie begleiten – das aber tun alle unauffällig Veranlagten ebenfalls. Philosophien helfen, die Welt zu verlassen, so, wie sie helfen, es in der Welt auszuhalten.
In Norwegen hat ein aus den Rastern des Landläufigen Hinausgesprengter jene Chancen des Bombenbaus, der geistigen Auffütterung und der öffentlichen Täuschung genutzt, die im Wesen der Freiheit liegen, im Wesen einer rauschend und fahrlässig jeder, aber auch jeder Freiheit huldigenden Gesellschaft. Freiheit ist ein Drama des Bösen, wie Philosoph Rüdiger Safranski schreibt. Freiheit räumt alle Welt weg, die dem Einzelnen zu nahe rückt, sie macht locker, schafft Raum, Spiel-Raum, sie überlässt den Einzelnen hauptsächlich sich selbst, ohne dass der dies als Gefahr erkennt. Das ist der Beginn des Dramas: dass mit Verringerung von Kontrollen, von sorgenden Beziehungen die Grenzenlosigkeit des Egoismus anfängt zu wuchern.
Oslo bestätigt: Nur noch die Tragweite der jeweiligen tödlichen Aktion, die Kraft der Logistik sowie der Zugriff aufs Waffenarsenal unterscheiden den verwirrten, in seiner Eisigkeit doch eindeutig kranken Amokläufer vom politisch angetriebenen Attentäter. Die Dinge mischen sich unauflösbar. Die Lust am Massaker ist längst nicht mehr gekettet an ideologische Verblendungen, revolutionäre Opfermythen, religiöse Hingebung, wahnpolitische Ergebenheiten. Das sind Aufziegelungsdrogen, die der gefährlichen Verwirrtheit auch eines Wahnwitzigen wie Brejvik eine Kultur verleihen sollen, auf die Ursachenforscher natürlich, in Welterklärungszwängen, eilfertig anspringen. Was alles dieser Mörder hassen mag, es ist als ideologisches Treibmittel auch woanders in unzähligen Köpfen, ohne dass diese Köpfe jahrelang Mordpläne aushecken.Der Hass ist um uns, in uns, die geistige Abgrenzung gehört zu unserem politischen Gemüt, unsere Seelen können kochen wie sonstwas, nur unterliegen Millionen Menschen zum Glück einer Domestizierung ihrer Anlagen zu Aggressivität und Zerstörung. Bis jetzt jedenfalls. Weiß jeder genau, was morgen in ihm geschehen könnte?
Es muss doch wohl davon ausgegangen werden, dass in einer so hochneurotisch gewordenen, fiebrig wunden Kampfgesellschaft wie der unseren längst in jedem missachteten Schüler, in jedem geistig Fehlgeleiteten, in jedem Entlassenen, in jedem Abgeschobenen, in jedem Gedemütigten ein Traum vom 11. September schlummern kann. Wo es keine Freude ist, mit anderen zu leben, mag es ein letztes Erlebnis sein, andere sterben zu sehen.
Die Ahnung dessen spüren wir inzwischen beim Betreten jedes Bahnhofes, jedes Restaurants, jedes Theaters. Oft nur für den Bruchteil einer Sekunde und gegen unser Bewusstsein. Unsere Blicke in fremde Augen, im Bus oder auf Märkten haben ihre unschuldige Neugier verloren. Wann ertappen wir uns umumkehrbar bei einem instinktiven Misstrauen? Ab wann übermalt unsere Fantasie endgültig andere (anders aussehende?) Menschen irritiert und aufgestört mit bösen Verdächtigungen?
Kränkungen, Einbußen, Ungerechtigkeiten, Neidgefühle, Ohnmacht, Ratlosigkeit, Zukunftsfurcht, Handlungsmüdigkeit, Überfütterung mit Brutalitätsbildern, im ganz Großen die Irrationalität des Weltenlaufs, die Zusammenbrüche der Ordnungen, Kriege, Computerviren, neuartige Seuchen, ökologische Kollapse, mafiotische Verbrechen – das alles bildet mit den sozialen, moralischen Erschütterungen kleiner Welten ein undurchdringliches Netz, in dem, um tapfer und taff Leben nachzuweisen, oft nur noch gezappelt werden kann. Ab und zu schießt einer.
Immer mehr Reaktionen auf den gegenwärtigen Weltzustand tragen offenbar mörderische Energien in sich. »Murmelte er nicht vor sich hin? Stierte er nicht mit fest geschraubten Augen in etwas Wesenloses weit vor ihm? Trug er nicht an einer Verzweiflung, die zu beherrschen unbändige Kraft kostete? Ist nicht jede bunte Selbstdarstellung, die er betreibt, Ausdruck einer Einsamkeit, die nur zufällig noch nicht zum letzten Mittel griff?« So kann man es bei Joseph Roth lesen. Beschreibung eines einzelnen Menschen. Daraus wurde eine Welt zahlloser globalisierter Endzuständler – deren letzter Tatendrang irgendwann, vielleicht, auf eine grausame Initialzündung setzt. So wird uns – nach Oslo mehr denn je – eine sehr harte Aufgabe abverlangt: jene beglückende Einbildung nämlich, alle Orte des Terrors lägen auch zukünftig weit von der Stelle entfernt, an der wir uns gerade aufhalten.
Man schaue jetzt auf Edvard Munchs »Schrei«. Es wurde über Nacht ein anderes Bild. Dämonische Schlieren gespenstern um einen Kopf. Pressen ihn schier zusammen. Er wird wohl bersten. Ja, der schreiende Kopf wird bersten. Die Augen sind groß und blind. Als hätten sie zu viel Unerträgliches gesehen. So malt sich ein norwegisches Bild weiter und weiter in die Gegenwart, bis Oslo. Manchmal ist es zum Fürchten, warum wir ein Kunst-Stück ein Meisterwerk nennen.
Hans-Dieter Schütt
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.