Immer mehr Menschen hungern
Christoph Müller vom Deutschen Roten Kreuz in Ostafrika: Hilfe dringend notwendig
ND: Wie beurteilen Sie die Situation in den Hungergebieten?
Müller: In Teilen Süd- und Zentralsomalias gibt es bereits eine massive Hungersnot. Dort sind 3,7 Millionen Menschen akut bedroht. Wir haben allerdings noch keine exakten Zahlen über Todesopfer. Im Norden Kenias und im Süden Äthiopiens haben wir es mit einer humanitären Notlage zu tun. In Äthiopien sind zur Zeit 4,56 Millionen Menschen betroffen, in Kenia laut den Vereinten Nationen 2,4 Millionen Menschen. Wenn die Hilfe nicht schnell bei den Bedürftigen ankommt, könnte sich die Situation auch dort zu einer Hungersnot verschärfen.
Ist der Höhepunkt der Krise schon erreicht?
Nein! In Somalia hat es in den letzten Tagen zwar Starkregen gegeben, aber der hat die Situation nur schlimmer gemacht, da er viele Notunterkünfte zerstört und die teilweise katastrophalen hygienischen Bedingungen verschärft hat. Die ohnehin geschwächten Menschen sind durchnässt und ohne Schutz natürlich noch anfälliger für Infektionskrankheiten. In den überfüllten Flüchtlingslagern ist es bereits zum Ausbruch von Masern gekommen; wo verunreinigtes Wasser getrunken wird, droht Cholera. Verbessern wird die Situation sich vermutlich erst, wenn es in der nächsten Regenzeit zu regelmäßigen Niederschlägen kommt. Damit rechnen wir frühestens im September. Allerdings sind die letzten beiden Regenzeiten fast komplett ausgefallen. Das könnte wieder passieren. Solche extremen Wetterereignisse gehören zu den Hauptgründen für die Hungersnot.
Und die anderen Gründe?
Am Horn von Afrika hat es 42 massive Trockenheiten seit 1980 gegeben, von denen über 100 Millionen Menschen betroffen waren. Aber so schlimm wie jetzt war es seit 27 Jahren nicht mehr. Damals starben bei einer Hungersnot in Äthiopien rund eine Millionen Menschen. Bedingt durch den Klimawandel treten Dürren immer häufiger auf, die Bauern und die von der Viehzucht lebenden Nomaden haben weniger Zeit und Nahrungsreserven, sich von der letzten Dürre zu erholen.
Hinzu kommen ökonomische Gründe wie weltweit gestiegene Lebensmittel- und Treibstoffpreise, sowie teilweise katastrophale Infrastruktur und Umweltzerstörung durch Abholzung. Außerdem gibt es kaum leistungsstarke öffentliche Verwaltungen, die solchen Katastrophen effektiv begegnen können. Katastrophenschutz und Frühwarnsysteme stecken noch im Anfangsstadium. Im Somalia herrscht seit über 20 Jahren Bürgerkrieg. Dort gibt es überhaupt keine funktionierende Regierung. Der Einsatz ist für die humanitären Helfer sehr gefährlich.
Wie kann in Somalia dennoch geholfen werden?
Das Rote Kreuz arbeitet in Somalia seit über zehn Jahren mit dem Somalischen Roten Halbmond zusammen. Die über 400 lokalen Mitarbeiter werden von allen nationalen Konfliktparteien akzeptiert. Damit haben wir einen großen Vorteil gegenüber anderen Hilfsorganisationen. Der Somalische Rote Halbmond unterhält in Süd- und Zentralsomalia 39 Krankenhäuser und bislang 18 Lebensmittel-Ausgabestellen. Mit 350 000 Euro Spendengeld werden wir jetzt entlang der größten Flüchtlingsstrecken zehn weitere mobile Ausgabestellen einrichten, denn es ist wichtig, dass wir den Menschen in Somalia – und nicht erst außerhalb des Landes – helfen. Vor allem unterernährte Kinder und Alte überleben die oft wochenlange Flucht in die Flüchtlingslager in Kenia und Äthiopien nicht. Und selbst wenn sie dort ankommen, sterben viele entkräftete Kinder noch in den Lagern. Das Rote Kreuz hat seit Jahresbeginn 347 000 Menschen in Somalia mit Trinkwasser, Notunterkünften, Kochmaterial und Nahrungsmitteln geholfen.
Und langfristig?
In Nordsomalia unterstützt das Deutsche Rote Kreuz in Kooperation mit der Europäischen Union Jugendarbeit, die zur Prävention von Kriminalität, Extremismus und Piraterie beiträgt. In einem anderen langfristigen pädagogischen Projekt zur Gesundheitsförderung wird Aufklärung gegen weibliche Genitalverstümmelung, von der die Mehrheit aller Mädchen in Somalia betroffen ist, vom DRK finanziert.
Viele Menschen wollen helfen, haben aber den Eindruck, dass unter den Hilfsorganisationen ein erbitterter Kampf um die Spendengelder entbrannt ist. Stimmt das?
Natürlich stellt eine Katastrophe wie diese für alle großen Hilfsorganisationen eine Chance dar, auch Gelder für mittel- und langfristige Hilfsprojekte in Afrika zu sammeln. Das finde ich auch völlig in Ordnung, da nur mit langfristigen Projekten wie Verbesserung der Landwirtschaft oder Ausbau der Trinkwasserversorgung und der Infrastruktur erreicht werden kann, dass die in dieser Gegend wiederkehrenden Dürren sich nicht zu Hungersnöten entwickeln. Bei den großen Organisationen garantieren Spendensiegel, dass das Geld auch dort ankommt, wo es gebraucht wird. Das Deutsche Rote Kreuz arbeitet in Ostafrika mit der Diakonie Katastrophenhilfe, Caritas International und UNICEF zusammen. So stellen wir sicher, dass wir uns nicht gegenseitig Konkurrenz machen. Zudem stimmen wir unsere Projekte aufeinander ab.
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