Bomben, Blut und jede Menge Spekulationen

Sieg und Niederlage sind nah – Versuch eines Überblicks

  • René Heilig
  • Lesedauer: 4 Min.
Viel Widersprüchliches wird derzeit von den Fronten des Libyen-Krieges berichtet. Sicher ist, dass vor allem die Zivilbevölkerung leidet. Die Rebellen sind mit Hilfe der NATO in der libyschen Hauptstadt Tripolis eingerückt. Sie feierten schon den Sieg, doch die Gegenwehr war heftiger als erwartet. Gestern betonte die Rebellenführung daher: »Der wahre Moment des Sieges ist erst dann gekommen, wenn Gaddafi gefasst ist.«

Als hierzulande nächtens die Druckmaschinen rotierten, um den Sieg der Rebellen zu drucken, zeigten TV-Stationen freudetrunkene Menschen, die den »Grünen Platz« in Tripolis zum »Platz der Märtyrer« erhoben. Was Google-Maps – noch ehe der Morgen graute – auf seinen elektronischen Karten eiligst nachvollzogen hat. Zu früh gefeiert; auch nach fast einem halben Jahr Aufstand und NATO-Krieg ist das Gemetzel noch nicht zu Ende.

Nur gut eine Stunde nach Mitternacht meldeten Agenturen den ersten Abschuss einer Kurzstreckenrakete durch Gaddafi-Truppen. Zwei weitere folgten, doch auch sie richteten in der Gegend um Misrata keinen Schaden an. Die Raketenstellungen ortete die NATO bei Sirte, der Geburtsstadt von Oberst Gaddafi. Der, so hatte sein Sohn Saif al-Islam noch in der Nacht bestätigt, sei wohlauf und in Tripolis. Der lachende Mann lud Journalisten, beschimpfte die Angreifer als »Kriminelle« und »Ratten«, denen man »das Rückgrat gebrochen« habe. Dass man die Rebellen nach Tripolis gelassen habe, sei »eine Falle« gewesen. Anschließend führte er einen Journalistenkonvoi durch Straßen der Hauptstadt an. Überall standen scheinbar entschlossene bewaffnete Gefolgsleute. Alles nur Propaganda-Show? Möglich.

Bevor der Spuk endete, wünschte Saif al-Islam den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag jedenfalls noch »zur Hölle«. Dessen Chefankläger Luis Moreno-Ocampo hatte kurz zuvor die Festnahme aller drei Gaddafi-Söhne durch die Rebellen bestätigt. Doch die Verhaftung war nur eine von zahlreichen Falschmeldungen des gestrigen Tages. Statt Bomben warf die NATO – wie bereits an den Tagen zuvor – zunächst nur Flugblätter ab. Nicht nur – wie es heißt –, um Pro-Gaddafi-Kämpfer zum Aufgeben zu bewegen, sondern auch, weil Luftunterstützung in urbanem Gebiet ein schwieriges Unterfangen ist.

NATO-Sprecher Roland Lavoie sagte, dass es kaum zu bestimmen sei, welche Gebiete noch von Gaddafi-Truppen kontrolliert werden: »Jede Seite beansprucht für sich Siege und es ist schwierig, die Lage aufgrund der unterschiedlichen Informationen einzuschätzen.« Die Aufständischen stellten sich schon mal auf einen längeren Kampf um Bab Al-Asisija, die verbunkerte Residenz von Gaddafi, ein. Mittags meldete der arabische Fernsehsender Al Dschasira heftige Gefechte nahe dem vermuteten Hauptquartier der Verteidiger. Die Rebellen waren da nur noch 500 Meter von der Residenz entfernt. TV-Bilder zeigten dichte Rauchwolken über dem Stützpunkt. Kurz vor 15 Uhr MESZ sollen die Rebellen-Truppen die erste Verteidigungsstellung der Residenz überrannt haben. Die NATO berichtet von vielen Fahnenflüchtigen. So ging Rebellensprecher Abdel Hafis Ghoga davon aus, dass die Festung leicht zu knacken sein werde. Er könne sich nicht vorstellen, »dass es einen heftigen Kampf geben wird«. Zu dem Zeitpunkt hatte die NATO ihre Bombardements wieder aufgenommen.

Doch ist Oberst Gaddafi wirklich in dem Areal abgetaucht? Es gibt viele Gerüchte darüber, wo sich der Oberst aufhalten könnte. BBC-Korrespondent Rupert Wingfield-Hayes meint, das wohl am meisten kolportierte besagt, der Gesuchte verstecke sich unter dem Rixos-Hotel, wo sich die meisten ausländische Journalisten aufhalten. Dort zogen gegen 14 Uhr MESZ Gaddafi-treue Soldaten auf. Das Gebäude wurde von einer Explosion erschüttert, es seien schwere Artillerie- und Raketenabschüsse zu hören, wurde berichtet.

Kurz vor 12 Uhr MESZ hatte es geheißen, Libyens Noch-Machthaber sei zum Rücktritt bereit, wenn die NATO ihre Luftangriffe einstelle. Das habe Gaddafi ihm in einer »persönlichen mündlichen Botschaft« mitgeteilt, sagte der kroatische Ex-Präsidenten Stipe Mesic. Auch das eine Meldung, die sich nicht verifizieren ließ.

Humanitäre Organisationen warnten mit zunehmender Sorge, dass nur noch wenige Krankenhäuser funktionierten, die immer wieder zwischen die rasch wechselnden Fronten geraten. Überall sei Blut, es gebe nicht genug Betten, Ärzte wie Schwestern seien überfordert. Nach Angaben von »Ärzte ohne Grenzen« fehlen lebensrettende Medikamente und medizinisches Material. Es gibt Probleme mit der Stromversorgung und zu wenig Treibstoff für Krankenwagen.

Wie kann man Unschuldige aus den Straßenkämpfen heraushalten? Die Internationale Organisation für Migration plante die Evakuierung von hunderten Ausländern aus Tripolis per Schiff. Doch mussten die Schiffe auf Reede bleiben, weil die Lage zu unsicher war.

Hassiba Sahraoui, stellvertretender Direktor von Amnesty International im Mittleren Osten und Nordafrika, zeigte sich gegenüber BBC äußert besorgt, denn seit Beginn der Kampfe werde das Humanitäre Völkerrecht immer wieder gebrochen. Zivilisten seien dem Wüten beider Seiten hilflos ausgeliefert. Hany Hassan Soufrakis, in der provisorischen Rebellen-Regierung zuständig für Menschenrechte, beeilte sich zu sagen, dass man eigens zum Schutz der wichtigsten Ministerien und anderer öffentlicher Einrichtungen eine Brigade aufgestellt hat. Die sei zwei Monate lang für ihre Aufgaben im besiegten Tripolis gedrillt worden. Auch der Anführer des Übergangsrates, Mustafa Abdul Dschalil, versprach ein faires und gerechtes Gerichtsverfahren für Muammar al-Gaddafi und seine Helfer. Auch er selbst werde sich »für die Jahre, die er als Minister der Gaddafi-Regierung gedient hat«, vor Gericht verantworten. Dschalil war 2007 zum libyschen Justizminister ernannt worden.

Am späten Nachmittag strömten immer mehr Rebellen aus anderen Teilen des Landes herbei. »Hunderte bewegen sich zum Bunker«, zitierten TV-Stationen einen Einwohner. Nach Angaben der Rebellenführung haben die Kämpfe um Tripolis bis zu diesem Zeitpunkt schon über 2000 Menschen das Leben gekostet.

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