Die Macht wird neu verteilt

Der Politologe Hans-Peter Mattes zu den Herausforderungen für den Übergangsrat Libyens

  • Lesedauer: 5 Min.
Hans-Peter Mattes (Jahrgang 1951) ist Stellvertreter des Direktors am GIGA-Institut für Nahoststudien Hamburg. Sein regionales Fachgebiet sind die Maghrebstaaten, vor allem Libyen. Mit ihm sprach Karin Leukefeld.
Hans-Peter Mattes
Hans-Peter Mattes

ND: Die Situation in Libyen ist zwar noch unklar, doch es wird eine neue politische Struktur im Land geben. Der Nationale Übergangsrat wird dabei ein wesentlicher Akteur sein. Welche Chancen, welche Probleme sehen Sie?
Mattes: Der Nationale Übergangsrat ist derzeit die einzig legitime Vertretung des libyschen Volkes. Das ist er seit seiner Gründung im Februar für Ostlibyen und nach dem weitgehenden Sieg der Oppositionstruppen auch für Westlibyen, weil die westlibyschen Stämme den Übergangsrat in dieser Form auch schon anerkannt haben.

Die »einzig legitime Vertretung des libyschen Volkes« wurde doch aber vom Volk nie gewählt.
Das ist richtig, aber es ist ja auch eine Übergangszeit. In Ägypten ist der Hohe Militärrat auch nicht gewählt worden, sondern bereitet den Weg für Wahlen vor. In Tunesien ist der momentane Ministerpräsident auch nicht vom Parlament gewählt worden. Das sind Übergangsprozesse, und auch in Libyen plant man Wahlen und strebt eine durch Wahlen legitimierte Regierung an.

Der Übergangsrat plant, von Bengasi nach Tripolis überzusiedeln. Wie kann es danach weitergehen?
Am 3. August hat der Rat ein 37 Paragrafen umfassendes Dokument verabschiedet, in dem er den zukünftigen politischen Fahrplan festgehalten hat. Nach seiner Installation in Tripolis plant der Übergangsrat innerhalb von 30 Tagen die Einsetzung einer Übergangsregierung, eines »executive board«, der die Regierungsgeschäfte ausüben wird. Diese Übergangsregierung wird Wahlgesetze erlassen, damit binnen acht Monaten eine so genannte Verfassunggebende Versammlung gewählt werden kann. Deren Aufgabe wird es sein, eine neue libysche Verfassung auszuarbeiten. Dann kommt es darauf an, wie die neue Verfassung aussehen wird. Wie stark wird der Islam in der Verfassung berücksichtigt, wie stark werden die Rechte der Berber dort verankert sein?

Welche Gruppen müssten überhaupt berücksichtigt werden in einer zukünftigen Verfassung und bei der politischen Neustrukturierung des Landes?
In der Verfassunggebenden Versammlung müssen alle Gruppen vertreten sein, damit ihre Interessen berücksichtigt werden. Es gibt zwei schwierige Punkte, die es zu lösen gilt. Die betreffen den Nationalen Übergangsrat und die betreffen die Regierung. Der Nationale Übergangsrat hatte bisher 30 Mitglieder, hauptsächlich aus Ostlibyen. Wenn der Rat aber repräsentativ sein will, dann müssen in West- und Südlibyen, wo zwei Drittel der Bevölkerung leben, mindestens 60 Lokalräte gebildet werden, die jeweils eine Person in den Übergangsrat entsenden, so dass der Rat dann 90 Personen umfassen müsste. Bislang ist aber darüber vom Nationalen Übergangsrat überhaupt nichts geäußert worden. Wir wissen nicht, wie die Zusammensetzung des Übergangsrates aussehen wird. Ob es dort weiterhin eine Dominanz ostlibyscher Stämme geben wird oder ob der Rat paritätisch zusammengesetzt wird. Das Gleiche gilt für die Regierung. Um politische Konflikte in Zukunft zu vermeiden, sollten auch die großen Stämme Libyens und die großen Familien in den Städten in irgendeiner Form mit hochrangigen Regierungsposten bedacht werden.

Wie viele Stämme gibt es überhaupt in Libyen?
Es gibt etwa 140 Stämme in Libyen. Diese Zahl basiert auf der Zählung in italienischer Kolonialzeit, als sie genau erfasst wurden. Davon sind 30 Stämme wirklich groß, der größte Stamm ist der Warfalla-Stamm mit 800 000 bis eine Million Mitgliedern. Die Herrschaft Gaddafis basierte letztlich auf einer Allianz dreier Stämme: des sehr kleinen Gadafa-Stammes, aus dem Gaddafi selbst kommt, des Warfalla-Stammes und des Maqarha-Stammes. Eine zukünftige Regierung wird auch den Warfalla-Stamm in irgendeiner Form einbeziehen müssen. Sonst würden – bei einer Gesamtbevölkerung von sechs Millionen – eine Million Libyer marginalisiert.

Es gibt ferner die Obeidi in Ostlibyen in der Region Tobruk. Bekannt ist, dass der übergelaufene frühere Innenminister Abdel Fattah Jounes al-Obeidi, der kürzlich ermordet wurde, zu diesem Stamm gehörte, wie auch der letzte Außenminister Gaddafis. Weitere bedeutende Stämme sind die Zuwaya, südlich von Bengasi, die Awlad Sleiman, die Farjan. Das sind große Stämme, die personell in irgendeiner Form berücksichtigt werden müssen.

Hinzu kommt die große berberische Minderheit in Tripolitanien, das können bis zu 15 Prozent der Bevölkerung sein. In Südlibyen gibt es Nachfahren ehemaliger schwarzafrikanischer Sklaven, die Teda und Toubou, die mit politischen Ämtern bedacht werden sollten. Das wäre wichtig, um zu zeigen, dass man es mit Minderheitenrechten ernst nimmt.

EU und USA bieten Libyen »Hilfe zur Demokratisierung« an. Was ist wichtig, um das Land im Übergang zusammenzuhalten?
Wichtig ist, was die libysche Seite an Bedarf formuliert, denn letztlich geht es um die Zukunft der libyschen Bevölkerung. Was von außen oktroyiert wurde, wird sicherlich keinen Bestand haben. Wenn die libysche Seite sagt, wir hätten gern Expertise zur Formulierung eines Parteiengesetzes oder eines Parteiprogramms, ist Hilfe willkommen. Wenn es im nächsten Jahr in den verfassunggebenden Prozess geht, gibt es natürlich auch Expertise aus Algerien, Marokko oder Tunesien, dort gibt es hoch qualifizierte Verfassungsrechtler.

Viel wichtiger finde ich die wirtschaftliche Restrukturierung des Landes. Der Erdölbereich ist ein Kapitel für sich. Aber sonst gibt es kaum Industrie und nur beschränkte Möglichkeit für Landwirtschaft. Wir haben ein defizitäres Bildungssystem und wir haben eine sehr junge Bevölkerung, 60 Prozent der Libyer sind jünger als 30 Jahre. Die suchen alle Arbeit, Berufstätigkeit, Ausbildung. Jugendarbeitsplätze zu schaffen ist wohl die größte Herausforderung.

Der Übergangsprozess sowohl in Tunesien als auch in Ägypten stockt. Wie wird sich die Entwicklung in Libyen auf die Nachbarstaaten auswirken?
Wenn jetzt in Libyen Frieden einkehrt, bedeutet das für beide Nachbarstaaten sofort eine Entlastung, weil viele Flüchtlinge in ihre Heimat zurückkehren werden. Die Grenzstationen werden wieder normal arbeiten, der Außenhandel wird wieder aufleben. Viele Produkte sind über Libyen nach Tunesien geliefert worden, und Libyen ist auf Lebensmittelimport aus Tunesien angewiesen. Ökonomisch und politisch wird sich hier die Lage zum Besseren wenden.

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