Spurensuche im Brandschutt
Feuertod von Oury Jalloh in Dessauer Polizeizelle: Magdeburger Gericht hört neue Gutachter
Die Todesursache schien schon festzustehen, da hatten die Ermittler noch nicht einmal den Tatort inspiziert. »Gleich die erste Zelle rechts wurde durch den Schwarzafrikaner belegt«, sagt der Beamte aus der Tatortgruppe des sachsen-anhaltischen Landeskriminalamtes, der am 7. Januar 2005 mit einer Videokamera in den Keller des Dessauer Polizeireviers hinabstieg und kommentierte, was er filmte. Mittags war dort in einer Zelle ein Feuer ausgebrochen, in dem der an Händen und Füßen gefesselte Oury Jalloh qualvoll starb. »Hier«, sagt der LKA-Beamte, bevor er die grausig zugerichtete Leiche filmt, »hat er sich angezündet«.
Woher der Mann so schnell das vermeintliche Wissen hatte, wonach Jalloh selbst den Brand gelegt haben soll, ist gut sechs Jahre später ebenso unklar wie die Frage, ob die Behauptung den Tatsachen entspricht. Seit Januar 2011 versucht das Magdeburger Landgericht herauszufinden, ob Andreas S., ein angeklagter Ex-Dienstgruppenchef aus dem Dessauer Revier, den Tod des 21-jährigen Flüchtlings aus Sierra Leone mitverschuldet hat, indem er zu langsam auf einen Feueralarm reagierte. Dazu muss auch geklärt werden, wie das Feuer ausbrach und wie schnell Jalloh starb. Seit fast 30 Verhandlungstagen werden Zeugen und Sachverständige gehört oder Beweismittel gesichtet, so wie gestern das Video vom Tatort.
Viele der Auskünfte und Unterlagen sind nicht neu. Von März 2007 bis Dezember 2008 hatte sich schon das Landgericht Dessau an den gleichen Fragen abgemüht. Am Ende des Prozesses ging das Gericht davon aus, dass Jalloh, obgleich gefesselt und alkoholisiert, eine Matratze mit einem Feuerzeug selbst angezündet habe. Ein rechtsstaatliches Verfahren, klagte der Richter, sei aber nicht möglich gewesen, weil Polizisten nicht die Wahrheit gesagt, sondern gemauert hätten. Die Verhandlung endete mit Freisprüchen für S. und einen damals mitangeklagten Polizisten. Später attestierte der Bundesgerichtshof den Dessauer Richtern aber handwerkliche Fehler, weshalb der Fall in Magdeburg nun erneut verhandelt wird.
Dabei gibt es durchaus Überraschungen. Im April sagte ein Polizist aus, er habe gegen Mittag, kurz bevor das Feuer ausbrach, noch zwei Beamte bei Jalloh in der Zelle gesehen. Diese hatten zuvor felsenfest behauptet, den Flüchtling nur früh durchsucht zu haben und danach nicht mehr in der Zelle gewesen zu sein. Solche Widersprüche nähren Spekulationen, wonach Jalloh das Feuer womöglich doch nicht selbst entfacht hat – Freunde Jallohs behaupten nicht nur auf Transparenten vor den Gerichtssälen: »Oury Jalloh – das war Mord«. Gabriele Heinicke, die Anwältin der Nebenklage, bezeichnete die Aussage als »Fundgrube«.
Als gestern der Rechtsmediziner Hans-Jürgen Bratzke ein Gutachten abgab, fragte Heinicke denn auch, ob denkbar sei, dass Brandbeschleuniger im Spiel war, »zum Beispiel reiner Alkohol«. Bratzke hatte im März 2005 im Auftrag der Familie Jalloh eine zweite Obduktion durchgeführt und dabei das zuvor übersehene gebrochene Nasenbein entdeckt. Im ersten Verfahren in Dessau war er nicht vorgeladen worden. Gestern bekräftigte er die These, dass Jalloh bei Feuerausbruch noch lebte und an einem Hitzeschock starb. Die dafür nötigen sehr hohen Temperaturen müssten, schlussfolgerte er aus der geringen Menge Ruß, die freilich selbst tief in den Lungen entdeckt wurden, sehr rasch erreicht worden sein. Ob dabei indes brennbare Flüssigkeiten eine Rolle spielten, konnte Bratzke auf Nachfrage der Anwältin nicht sagen.
Der Nasenbeinbruch wiederum, der Spekulationen über Polizeigewalt gegen Jalloh genährt hatte, kann laut Bratzke von einem Faustschlag ebenso herrühren wie davon, dass Jalloh selbst seinen Kopf gegen die Wand schlug – was die Polizisten steif und fest behaupten. Er könne sogar erst bei der Obduktion entstanden sein. »Die Interpretationen«, sagt Brantzke, »können in alle Richtungen gehen.« Das wiederum trifft noch immer auch auf den gesamten Fall zu.
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