Die Erde wächst nicht mit
»Es gibt in Europa kein Altenproblem, sondern ein Nachwuchsproblem« / Karl Georg Zinn über den vielfach ignorierten Zusammenhang von Demografie und Wirtschaftsentwicklung
ND: Herr Zinn, Sie kritisieren in Ihrer Studie »Wachstum, Wohlstand, Weltbevölkerung« die Unterbelichtung demografischer Probleme bei den Debatten um die Wirtschaftsentwicklung – auch im linken Spektrum –, während sich auf diesem Feld gleichzeitig ein »explosives Krisenpotential« aufbaue.
Zinn: Die Weltbevölkerung überschreitet in diesem Jahr die Sieben-Milliarden-Grenze und bis Mitte des Jahrhunderts wird ein weiterer Zuwachs der Weltbevölkerung um etwa zwei Milliarden prognostiziert. Angesichts dieses lawinenartigen Anwachsens erstaunt es, dass die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften nur sehr sporadisch auf die demografische Entwicklung eingehen und sie kaum im Zusammenhang mit ökonomischen, politischen, ökologischen Problemen sowie nicht zuletzt mit der Frage nach den demografisch bedingten, künftigen globalen Konfliktpotenzialen erörtern. Um zu verdeutlichen, welche Zusammenhänge zwischen Bevölkerungswachstum und Konflikten bestehen, braucht man sich nur vor Augen zu halten, dass die Millionen Menschen, die den Kriegen und den Genoziden des 20. Jahrhunderts zum Opfer fielen, die Größenordnung der gesamten Weltbevölkerung um Christi Geburt erreichten. Kurz gesagt: Es gibt anscheinend einen Zusammenhang zwischen der Zahl der Opfer und der Größe der Weltbevölkerung auf unserem begrenzten Planeten.
Eine quasi naturbedingte Kausalität?
Selbstverständlich gibt es hierbei keine zwingende Ursache-Wirkung-Beziehung. Weder das immense Bevölkerungswachstum der vergangen zwei Jahrhunderte noch das Ausmaß der Vernichtungs- und Mord-Exzesse des 20. Jahrhunderts wären ohne die rasante wissenschaftlich-technische Leistungssteigerung möglich gewesen. Doch das historische Faktum, dass die Millionenheere der Weltkriege, die Logistik, die Produktion von Waffen, Munition, Transportmitteln usw. eben nur möglich waren durch ein entsprechendes Bevölkerungswachstum, legt die Fragen nahe, ob und wie sich solche Konstellationen bei der absehbaren Zunahme der Weltbevölkerung wiederholen könnten – und was geschehen muss, um unsere Spezies künftig vor solchen gattungsendogenen Katastrophen zu bewahren.
Sie sprechen indes von einem »an Leichtsinn grenzenden Transmissionsoptimismus«. Laufen wir voller eurozentristischer Arroganz und Ignoranz in den demografischen Kollaps?
Im 19. Jahrhundert, das unter dem Einfluss der pessimistischen Ideologie des englischen Pastors Malthus stand, erschien der Bevölkerungsanstieg weniger als eine Gefahr denn als einfach unmöglich. Nahrungsmangel, Armut, Hunger und Elend würden dem Anwachsen der Menschenzahl ein baldiges Ende setzen – ein Ende mit Schrecken, aber eben ein Ende. Es kam bekanntlich anders, und das erscheint eben als ein Erfolg. Das erklärt wohl auch, warum die Warnung der wissenschaftlichen Demografie von Politik, Sozialwissenschaft und breiter Öffentlichkeit mehrheitlich als realitätsferner Alarmismus wahrgenommen oder auch ignoriert wird. Hierbei spielt auch eine Art technikmetaphysische Heilserwartung eine Rolle: Die Probleme wurden in der Vergangenheit durch Innovationen gelöst, und das werde auch künftig so sein. Doch diese zweckoptimistische Hoffnung vernachlässigt, dass mit der wachsenden Weltbevölkerung unser Planet nicht mitgewachsen ist. Umweltzerstörungen, Klimawandel, Verbrauch erschöpfbarer Ressourcen und dergleichen gehen vielmehr sogar zulasten seiner Tragfähigkeit, die entsprechend gesunken ist – und weiter sinkt.
Da sich die Grenzen des wirtschaftlichen Wachstums deutlich abzeichnen, wird sich wohl nicht länger vermeiden lassen, auch über eine notwendige Begrenzung des Bevölkerungswachstums und über moralisch vertretbare bevölkerungspolitische Möglichkeiten nachzudenken. Eine besondere Schwierigkeit ergibt sich dadurch, dass die reichen Gesellschaften, insbesondere die europäischen, schrumpfen. Restriktive bevölkerungspolitische Maßnahmen wären hingegen in jenen Ländern und Regionen notwendig, die heute bereits mit ihrem Bevölkerungswachstum völlig überfordert sind.
Damit ist der in hiesigen Breiten bis dato gültige Generationenvertrag unwiderruflich obsolet?
Die Überalterung Europas ist sowohl durch niedrige Geburtenraten als auch steigende Lebenserwartung bedingt. Wenn eine Gesellschaft altert, so ist das zweifelsfrei als Erfolg von Medizin und steigendem Lebensstandard zu werten. Problematisch wird das jedoch – und Sie haben das mit dem Stichwort »Generationenvertrag« deutlich gemacht – erst infolge des starken Geburtenrückgangs. Wenn der Altenquotient, also das Verhältnis von alter Bevölkerung zur erwerbsfähigen, steigt, so zeugt das von einer zu niedrigen Geburtenrate. Es gibt kein Altenproblem, sondern ein Nachwuchsproblem. Bei weiterem Produktivitätsfortschritt wird es zwar möglich sein, die Alterssicherung auch mit einer relativ kleineren Erwerbsbevölkerung zu gewährleisten. Aber die Frage lautet: Wie stark darf der Altenquotient noch zunehmen, ohne dass es zu massiven Verteilungskonflikten zwischen den Generationen kommt?
Die Bevölkerungsschrumpfung der reichen, altindustrialisierten Volkswirtschaften ist kein Naturgesetz, sondern hat Ursachen, die zumindest teilweise durchaus politischem Einfluss unterliegen. Die Tatsache, dass das wohlhabende Deutschland mit einer Geburtenziffer von unter 1,4 Kinder pro Frau von der Überalterung weit stärker bedroht ist als etwa Frankreich oder die skandinavischen Länder – dort liegen die Geburtenziffern über 1,8 – zeugt von Unterschieden der Politik im Umgang mit den demografischen Problemen. Stichworte sind etwa Hilfe für Alleinerziehende, Angebot von Kinderhorten, Ganztagsschulen, Förderung kinderreicher Familien durch die Steuerpolitik, generell die Bereitschaft einer Gesellschaft, in ihren Nachwuchs zu investieren. Der internationale Vergleich zeigt, dass in Deutschland das Kinderhaben eher diskriminiert wird. Franz Xaver Kaufmann, emeritierter Hochschullehrer der Sozialpolitik und Soziologie der Universität Bielefeld, konstatiert für Deutschland zu Recht eine generelle »strukturelle Rücksichtslosigkeit« zulasten von Familien mit Kindern. Die Entscheidung für Kinder stellt zudem eine langfristige Verpflichtung mit erheblichen finanziellen Folgen dar. In einer von Unsicherheit des Arbeitsplatzes bestimmten Umwelt könnte daher die Bereitschaft, Kinder aufzuziehen, erheblich abnehmen.
Bislang waren Produktivitätsgewinne und Wachstum die Wohlstandsquellen bei gleichzeitigem Bevölkerungswachstum. Kann das angesichts der derzeitigen Bevölkerungsentwicklung in Asien, Südamerika und Afrika einfach fortgeschrieben und auf jene Regionen übertragen werden?
Das Wachstum der altindustrialisierten Länder ging bekanntlich zu Lasten der Umwelt, der Ressourcen und der außereuropäischen Gesellschaften. Denken Sie an die kolonialistische Ausbeutung und deren schändliche Hinterlassenschaften vor allem in Afrika. In den vergangenen 200 Jahren konnten die Altindustrialisierten sozusagen noch aus dem Vollen schöpfen, und sie haben sich damit Vorteile und Vorsprünge verschafft. Der Wunsch, diese Besitzstände zu wahren, lässt sich auch nicht einfach beiseite schieben. Doch inzwischen verbreitet sich die seit mehr als 30 Jahren bekannte Tatsache auch in der aufgeschlossenen Öffentlichkeit, dass reiche Gesellschaften von weiterem Wirtschaftswachstum – selbst wenn es möglich wäre – keine Steigerung der Lebensqualität erfahren. Solche Diskussionen sind keine flüchtige Modeerscheinung. Faktisch zeugen doch die niedrigen Wachstumsraten in den meisten OECD-Ländern bereits von dem »neuen Zeitalter« des »Genug« auf historisch hohem Niveau. Der Abschied der Reichen vom Wachstumsfetischismus gibt den ärmeren Volkswirtschaften bessere Chancen, ihren Nachholbedarf zu decken. Sie werden nicht den Lebensstandard der reichen Länder erlangen, sondern ihr Wachstum wird – hoffentlich – dazu führen, ein menschenwürdiges Auskommen zu sichern. Selbstverständlich setzt das voraus, dass die uralte Verteilungsfrage im Sinn menschenrechtlicher Normen gelöst wird. Ich zweifle allerdings, dass der gegenwärtige Kapitalismus dazu in der Lage ist.
Dessen ungeachtet handelt die reiche »alte Welt« jedoch offenbar zusehends nach dem Prinzip »Augen zu und durch«, mit Abschottung und bellizistischer »Befriedung« vor Ort.
Der Versuch, nach dem ersten Schock der Finanzkrise wieder auf den alten Kurs des »Weiter-so« zurückzukehren, ist in vollem Gang. Doch damit werden auch die alten Probleme zurückgeholt. Die politische Klasse in Europa und in den USA hängt der Illusion an, sie hätte durch ihre Verschuldungsorgien nicht nur einen zur Großen Depression der 1930er Jahre vergleichbaren Absturz verhindert, sondern zugleich die Ursachen der Krise beseitigt. Das ist eine verhängnisvolle Selbsttäuschung. Der Verzicht, grundlegende Reformen durchzuführen, wozu vor allem gehört, die Massenarbeitslosigkeit und die krebsartige Ausbreitung prekärer Arbeits- und Lebensverhältnisse zu überwinden, ist der sicherste Weg in die nächste, dann nicht mehr beherrschbare Krise – jedenfalls nicht beherrschbar, ohne die Demokratie zur Disposition zu stellen.
Was wären realistische Alternativen?
Die Formel »Vollbeschäftigung und Wohlstand auch ohne Wachstum« gibt die Richtung an. Die erstaunliche Tatsache, dass trotz des Wachstumseinbruchs nach dem Herbst 2008 von 4,7 Prozent und einem entsprechenden Rückgang des Arbeitsvolumens die offizielle Arbeitslosenquote nicht in die Höhe schnellte, hatte ihren Grund in einem alten Rezept, nämlich der Arbeitszeitverkürzung. Was als vorübergehende Notstandsmaßahme funktionierte, würde auch als Dauereinrichtung machbar sein: Umverteilung von Arbeit. Denkbar wäre etwa, Produktivitätssteigerungen für Arbeitszeitverkürzung der Vollzeitbeschäftigten zu nutzen, für die Teilzeitbeschäftigten hingegen könnten Lohnerhöhungen vereinbart werden. Auf mittlere Sicht fände somit eine Angleichung derart statt, dass die Einkommen der Teilzeitbeschäftigten steigen, die Arbeitszeit der Vollzeitbeschäftigten sinkt. Dieses Modell hätte wahrscheinlich auch bevölkerungspolitische Effekte. Denn die durchschnittliche Arbeitszeit würde sinken, und es bliebe mehr Zeit für die Familie und insbesondere auch für die Kinder.
Ohne eine grundlegende Neuverteilung der Arbeit wird auf Dauer kein Land mehr Vollbeschäftigung erreichen können. Und das gilt gerade auch für die sich noch verjüngenden Gesellschaften mit ihrem hohen Bevölkerungszuwachs.
Gespräch: Dieter Janke
Karl Georg Zinn, geboren 1939, ist ein deutscher Wirtschaftswissenschaftler. Er studierte Wirtschafts- und Sozialwissenschaften in Frankfurt am Main, Freiburg und Mainz.1965 wurde er promoviert. Im Jahr 1969 erfolgte seine Habilitation an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Von 1970 bis 2004 war Zinn Professor für Volkswirtschaftslehre an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen mit dem Arbeitsschwerpunkt Makroökonomik. Zinn ist bekannt für seine dezidiert keynesianische Position; auch marxistische Ansätze sind Basis seiner Analyse.
Von seinen über 30 Buchveröffentlichungen seien genannt:
- Der Niedergang des Profits. Eine Streitschrift zu den Risiken der kapitalistischen Wirtschaftskrise, Köln 1978.
- Die Selbstzerstörung der Wachstumsgesellschaft, Reinbek 1980.
- Kanonen und Pest. Über die Ursprünge der Neuzeit im 14. und 15. Jahrhundert, Opladen 1989.
- Die Wirtschaftskrise. Wachstum oder Stagnation. Zum Grundproblem reifer Volkswirtschaften, Mannheim u. a. 1994.
- Wie Reichtum Armut schafft, 4. A., Köln 2006.
Die Keynessche Alternative, Hamburg 2008. - Wachstum, Wohlstand, Weltbevölkerung. Die demografischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, Hamburg 2011.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.