Händchenhalten mit Claudia
Umwelt, Tiere und Atom: Im Nordosten besetzen die Grünen ursprüngliche Themen
Aus den Zügen von Grünen-Chefin Claudia Roth sind nicht allzu viele Schlüsse zu ziehen an diesem Samstagnachmittag. Nicht, als sie mit ihrem Landtags-Spitzenkandidaten Jürgen Suhr und dessen Konkurrenten Helmut Holter von der LINKEN in Kameras lächelt. Nicht, als später im Verlauf der Kundgebung gegen die umstrittene Alt Telliner Ferkelzuchtanlage einem hochemotionalen Aufruf lauscht, sich als Mensch bei den Tieren auf Knien zu entschuldigen. Und auch nicht, als die 150 Kundgebungsteilnehmer am Ende einen Kreis bilden und eine lange »Perlen«-Kette aus Tennisbällen in die Höhe recken, in Richtung der Sonne, die Sauen und Ferkel nie sehen werden.
Für Roth muss das Szenario etwas Nostalgisches haben. Man ist ja ziemlich smart geworden, doch hier ist der Stil noch reichlich fundamental. Passend zu dem Bild, das die Ferkelstall-Baustelle inzwischen abgibt: Es gibt nicht nur einen hohen Zaun mit Untergrabungsschutz, sondern auch dahinter frei laufende Hunde. Tagsüber sitzen die Tiere in zwei Stahlkäfigen, die von der Straße aus gut zu sehen sind und einen Ruch von Wackersdorf verbreiten. So enttäuscht die Parteichefin auch darüber sein mochte, dass selbst sie hier keinen großen Auflauf verursacht, so sehr musste sie das Ambiente freuen. Die Leute hinter dem Stand, an dem Vegetarierbücher ausliegen, sind tatsächlich aus dem nächsten Dorf; auch auf den Autos, die die Stichstraße bis zur Baustelle säumen, überwiegen die lokalen Kennzeichen. Auch wenn nicht alle hier die Grünen wählen werden, ist im Tollensetal wie in anderen Regionen ein grünen-affines Milieu entstanden, eine Neuheit im Land.
Der Landtagseinzug der Nordost-Grünen, der seit Monaten mit etwa acht Prozent vorhergesagt wird, basiert nicht nur auf dem Fukushima-Turbo. In den letzten Jahren sind im Land zahlreiche Bürgerinitiativen in grünen Politikfeldern entstanden – und das sogar erfolgreich, etwa beim Steinkohlekraftwerk in Lubmin. Nun stehen agrarische Großinvestitionen im Fokus. »Wir können stolz darauf sein, zu einem Stimmungswandel im Land beizutragen«, sagt Jörg Kröger von der Initiative »Leben im Tollensetal«. Die Gruppe, seit mehr als fünf Jahren aktiv, hat viel Nachahmung gefunden; gegen die neue Generation von Megastallungen, die auf MV zurollt, gibt es vielerorts Mobilisierungen.
In den Unistädten Rostock und Greifswald war es die Kernkraft-Laufzeitverlängerung, die einen Grün-Ruck auslöste. Des Grünen-Umweltministers Jürgen Trittin »Ausstieg« sah auf einmal gut aus, man konnte wieder auf die Straße. Basislager, Camps, Streckenposten, Sitzblockade: Was im eisigen Dezember rund um Lubmin und Greifswald passierte, hatte es so noch nie gegeben.
Spitzenkandidat Suhr steht also am Elfmeterpunkt, und es ist nicht mal ein Torwart im Kasten. Der Torwart, das ist die Linkspartei, die im Land mit dem Ex-Umweltminister Wolfgang Methling schon immer eine starke »grüne« Seite hatte. Nach Methling wurde das konsequent fortgesetzt: Es war die Linkspartei, die eine Volksinitiative gegen das Kohlekraftwerk startete, beim »Castor« marschierte nicht nur Holter mittags auf den Demos; man konnte Landtagskandidatinnen um vier Uhr früh im Eiswind treffen. Betreffs der Ferkelproblematik hat die LINKE im Landtag sowohl ein Verbandsklagerecht im Tierschutzbereich gefordert als auch verbindliche Raumordnungsverfahren für derartige Vorhaben. Das sollte auch die Grünen eindämmen, doch angesichts der gegenwärtigen Welle sah sich die Linkspartei mit den Kernthemen Löhne, Bildung und Kommunen besser beraten.
Die Landesgrünen sind in der glücklichen historischen Lage, sich erst im Nachhinein beweisen zu müssen. Das Angebot ist monothematisch: Die Grünen wollen an erster Stelle eine wenig erfolgversprechende Überprüfung der Betriebserlaubnis für das Atommülllager. Ein zweiter prominenter Punkt ist die Zurückdrängung der »Massentierhaltung«. Man will mehr Testflächen für Windkraft, die Kopfnoten auf Schulzeugnissen abschaffen und die Rücknahme der jüngsten Landestheaterreform. Die Grünen haben sich ein Beteiligungsinstrument namens »Bürgerantrag« einfallen lassen und fordern einen besseren Kitabetreuungsschlüssel. Im Arbeitsmarkt oder im Bereich der Finanzverteilung im Land fehlen eigene Ansätze. Irgendwann, und Politik ist schnelllebig, wird Suhr vielleicht noch einmal an ein Detail dieses Nachmittags in Alt Tellin denken: Der große grüne Fesselballon, der ganz am Ende in den Himmel steigen sollte, zerplatzte schon beim Aufpusten.
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