Die Wahrheit ist rund
11. internationales literaturfestival berlin:
Eine Umfrage des Forums für angewandte Sozialwissenschaften ergab im August 2011, dass 24 Prozent der Tunesier optimistisch in die Zukunft blicken. Im April waren es noch 32 Prozent gewesen. Beklagt werde, so die Meinungsforscher, das Ausbleiben politischer Reformen, mangelnde soziale Entwicklung und eine hohe Arbeitslosigkeit. Außerdem bestehe die Angst vor einer Konterrevolution der Partei des früheren Präsidenten Ben Ali.
War es denn überhaupt eine Revolution, die im »arabischen Frühling« zu Jahresbeginn erst Tunesien, dann Ägypten und zuletzt Libyen erfasste, die in Jemen und Bahrain vorerst erstickt wurde, und von der man Syrien noch nicht weiß, ob und wie sie weitergeht? Oder pappten die Medien der sich entladenden Wut der unter despotischen Herrschern leidenden Bevölkerung der betroffenen Länder das plakative Etikett »Revolution« nur auf, um die eigene Berichterstattung besser zu verkaufen?
Diese Fragen stellte der französisch-marokkanische Autor Tahar Ben Jelloun in einer provokanten Rede in den Raum, mit der er soeben die diesjährige Ausgabe des »internationalen literaturfestivals berlin« (ilb) eröffnete. Gewohnt politisch, kann das alljährliche Spätsommerfest der Romanciers, Poeten und Essayisten an den Umwälzungen in Nahost natürlich nicht vorbeisehen.
Mit Gespür für das Aktuelle und dem unbändigen Wunsch, sich immer wieder gegen den Mainstream aufzulehnen, bat Festivaldirektor Ulrich Schreiber einen Festredner aufs Podium, der beharrlich und wortgewandt gegen Opportunitätsdenken und lahmes Zeitgeistlarifari anschreibt. »Der Funke« heißt Jellouns jüngst erschienene Kurzgeschichte. Ein fiktiver Report über das kurze Leben des Mohamed Bouazizi, der sich mit 28 Jahren aus Protest gegen das Willkürregime Ben Alis im Dezember 2010 in der tunesischen Stadt Sidi Bouzid selbst verbrannte und damit die »Jasminrevolution« auslöste.
»Warum?« fragt Tahar Ben Jelloun. Umso mehr, als der Koran den Suizid verbietet. Und wichtiger noch: Was kann und muss der Schriftsteller in einer solchen Zeit des Umbruchs tun? Ben Jelloun tritt kompromisslos für eine aktive Literatur ein. Zwar könne auch die Nabelschau zu Meisterwerken führen, aber nur, wenn man Marcel Proust heißt. Für die anderen gilt: »Wenn die Welt überquillt vor Leiden, ist die Beschreibung des privaten Unglücks des Schriftstellers nur noch unanständig.« Auch mahnt der Autor zu Bescheidenheit und erinnert: »Schreiben ist zuerst zuhören, bedeutet, das Unsichtbare zu übertragen.«
Der Schriftsteller als Zeuge, der die Welt beschreibt, »damit wir sie besser verstehen können«. Jedoch nicht als Allwissender, sondern mit all seinen Zweifeln. Denn: »Die Wahrheit ist rund, entgeht uns, spiegelt uns Illusionen vor.«
Doch Ben Jelloun will nicht nur Einmischung. Er fordert, die richtigen – korrekten – Worte. Ist es eine Revolution, oder doch nur eine Revolte? Natürlich kann – darf – der Schriftsteller sich auch irren, konzediert Ben Jelloun. »Literatur existiert nicht, um zu reparieren oder zu heilen.« Vielmehr »begleitet der Roman den Verlauf der Geschichte«. Sein Autor »heftet sich an die Fersen« des menschlichen Lebens, verfolgt seine Verwerfungen, macht die Spuren der Hoffnung ausfindig und schreibt »mit größtmöglicher Aufrichtigkeit, weil es seine Pflicht ist«.
Aufrüttelnde Worte zum Beginn des ilb 2011, das bis zum 17. September im Haus der Festspiele und anderswo in Berlin Lesungen und Debatten bieten wird. Etwas abgespeckter als in den Vorjahren, lädt die 11. Ausgabe zur Begegnung mit bekannten und zur Entdeckung weniger bekannter deutscher und internationaler Autoren ein. Für die Programmsparte »Literaturen der Welt« stehen in diesem Jahr unter anderem Antonio Muñoz Molina, Javier Cercas, Patrick Chamoiseau, Ilija Trojanow, Patricia Cornwell, DBC Pierre, Melinda Nadj Abonji, Gary Shteyngart und Michail Schischkin. Den »Fokus Asien/ Pazifik« präsentieren Pankaj Mishra, Nam Le und viele mehr. Unter den Experten der Reihe »Reflections« sind Jakob Augstein, György Dalos, Peter Raue, Moritz Rinke, Jordi Soler und Omar Akbar. Und die »Retrospektive Erinnerung sprich« wird unter anderem José Saramago, Peter Weiss und Edouard Glissant gewidmet sein. Außerdem gibt es Specials, Poetry Slams, die Kinder- und Jugendliteratur, das Theatertreffen und ganz neu in diesem Jahr die Graphic Novel. Tahar Ben Jellouns Lob der realistischen Illusion folgen exquisite Veranstaltungen, die uns nach kühlem Sommer zurück in einen hoffnungsvollen Frühling tragen wollen.
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