»Macht das doch, verdammt noch mal«

Günter Grass rief die SPD auf, sich zur Fürsprecherin eines Systemwechsels zu machen

Sigmar Gabriel ist nicht Willy Brandt. Und ob Günter Grass für ihn wie dereinst für den ersten sozialdemokratischen Bundeskanzler auf Wahlkampftour gehen wird, steht dahin. Der Schriftsteller hat dies nicht explizit versprochen und der SPD-Parteivorsitzende einen derartigen Wunsch auch nicht ausdrücklich artikuliert.
»Alle halbe Jahre eine Veranstaltung mit dir, damit ich nicht vom linken Weg abkomme«, wünscht sich Gabriel im Gespräch mit Grass im Willy-Brandt-Haus in Berlin. Anlass der Zusammenkunft ist ein neues Buches: »Günter Grass auf Tour für Willy Brandt«, herausgegeben von Kai Schlüter (Ch. Links Verlag, 240 S., geb., 24,90 €).
Der Autor der »Blechtrommel« begründet, warum er sich Mitte der 60er Jahre für den von den Nazis außer Landes getriebenen Antifaschisten und im restaurativen Adenauer-Globke-Staat weiterhin als »Landesverräter« verschrienen Sozialdemokraten engagiert hatte. Gemeinsam mit Siegfried Lenz, Günter Gaus, Horst Ehmke und anderen hatte er die Sozialdemokratische Wählerinitiative (SWI) gegründet. Die Gruppe wollte »das Salz in der Suppe der SPD sein, ohne der Partei die Suppe zu versalzen«. Selbstironisierend habe man sich als »Saline« der Partei bezeichnet. Kritische Solidarität lautete die Devise. Man warb um neue Wähler für die SPD, ohne sich opportunistisch zu verbiegen. Das zu betonen, ist Grass noch heute wichtig. Er berichtet, dass es auch damals Streit in der Partei gab. Seinen aktuell wieder aufgegriffenen Vorschlag, bei der Kandidatenaufstellung die Bürger einzubeziehen, die Partei zu öffnen und mehr Demokratie zu wagen, habe seinerzeit zu seinem Erstaunen ausgerechnet Herbert Wehner positiv aufgenommen. Allerdings erst, nachdem dieser einen seiner berüchtigten Brüllanfälle erlitt. »Da habe ich zurückgebrüllt«, erzählt Grass. Worauf Wehner sagte: »Gut, dann machen wir eben Leninsche Bündnispolitik.«
Dass die damaligen Verhältnisse (mit Vietnamkrieg, Kaltem Krieg, Bildungskrise etc.) wesentlich weniger kompliziert gewesen seien als die heutigen, wie Gabriel meint, will Grass nicht als Entschuldigung für mangelnden Wagemut gelten lassen: »Man muss Schwerpunkte setzen.« Und ein solcher sei heute: Schluss mit der bankenhörigen Politik. »Niemand hat den Mut, von Systemwechsel zu sprechen«, beklagt der Mann, der sich selbst als Revisionist charakterisiert. »Man muss das System aufbrechen. Die SPD sollte sich zum Fürsprecher des Systemwechsels machen.« Grass erntet Beifall im Publikum, das sich nur aus älteren Damen und Herren rekrutiert und wohl repräsentativ für die SPD ist – lässt doch Gabriel im Verlauf der Diskussion verlauten, das Durchschnittsalter der Parteimitglieder betrage 60 Jahre.
Öffnung und mehr Demokratie will der heutige SPD-Vorsitzende auch, aber offenkundig nicht die Systemfrage stellen. Er beschwört eine Politik der kleinen Schritte, der Reformen: Besteuerung der Spekulanten, Finanzmarkregulierung und gegen die Euro-Krise einen Marshallplan. »Dann macht das doch zum Parteibeschluss«, interveniert der ungeduldige Intellektuelle. Gabriel weicht aus: »Beschlüsse sind nicht so wichtig.« Und beklagt sodann: »30 Jahre lang haben uns Medien, Politik und Wissenschaft das eingeredet, was zur Krise geführt hat: weniger Staat, mehr privat, keine Regelung der Märkte.« Worauf Grass wiederum verärgert einhakt: »Ihr habt euch das einreden lassen!« Der Autor des Einheitskritischen Romans »Ein weites Feld« mahnt zudem, den Griechen, »denen mein volles Mitgefühl gehört«, keine Treuhand zu oktroyieren: »Wir wissen, was das für eine kriminelle Vereinigung ist.«

Später lobt Grass Gabriel, weil dieser immerhin Fehler einräumt. Glaubwürdigkeitskrise und Vertrauensverlust habe sich die SPD selbst eingebrockt – mit der Agenda 2010, mit Leih- und Zeitarbeit. Gabriel will zum Gründungsmythos der SPD als »Partei der Arbeit« zurückkehren, für Mindestlöhne und gegen Altersarmut kämpfen. Grass will mehr. Die SPD soll zu Protesten nach dem Vorbild der derzeitigen in den USA aufrufen. »Und warum fordert ihr nicht Neuwahlen, verdammt noch mal?«, fragt der Citoyen der Feder fast unwirsch den Politiker und setzt zweifelnd hinzu: »Ich hoffe nur, ihr seid darauf vorbereitet.«

Ob dem so ist, verriet der Parteichef nicht. Dankbar nahm er aber Grass' Bekundung entgegen: »Ich werde die SPD unterstützen, solange ich noch krauchen kann.«
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