Die edlen und die elenden Gründe

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 7 Min.

Wenn nach der Lektüre eines Buches die Fragen nur dringlicher werden, ist ein Buch ein gutes Buch. Indem es gut für einen Schmerz bleibt. In Eugen Ruges Roman »In Zeiten des abnehmenden Lichts« sind mehrere Generationen aufgerufen - gemeinsam und im Gegensatz, einander nah und einander fremd bilden sie nach dem Zweiten Weltkrieg (aus den entgegengesetzten Ecken der Welt kommend, aus West-Exil und Gulag), dieses wunderliche Wesen DDR. Bilden es und sind quasi Ausbilder der Hoffnung wie der Disziplinierung. Bilden die Funktionärsschicht, bilden sich (teils nur oberflächlich) weiter, bilden sich Fortschritt ein - und Führungsrecht. Mit aufgehenden Sonnen begann es. Dann, wie der Romantitel sagt, nahm das Licht ab, zunehmend.

Man kann den Gestalten dieses Werkes die Frage stellen, warum es sie so fest an diesen ostdeutschen Staat hielt, warum so lange, obwohl irgendwann nur noch eines feststand: wachsende Brüchigkeit. Die Frage bleibt aufregend, weil es heute so viele »Kundige« gibt, die das für eine Scheinfrage halten: Natürlich habe man nicht wirklich in dieser DDR bleiben wollen und können, wenn man denn mehr als ein Anpasser war. Diese einfache Geschichtssicht, die nie stimmt, sich aber wie ein ansteckendes Ekzem weiterpflanzt!

Ruges Buch ist ein Familienroman auch im Sinne jener großen Familie an Gründen, warum man über Zeiten oder bis zum Schluss in den festgelegten Grenzen blieb. In der »Süddeutschen Zeitung« schreibt der Historiker Jürgen Kocka (in der Rezension eines Buches über Alltag und Herrschaft in der DDR von Stefan Wolle): die »Verknüpfung von Unterdrückung und Utopie« hebe die DDR-Geschichte auf ein Niveau, »auf dem sie wieder interessant werden kann«.

Man blieb im Osten »bei der Sache«, weil man für sie gelitten hatte. Weil es einem als Kämpfer nun verdientermaßen gut ging. Oder man blieb, weil alles andere ja auch blieb, und zwar beim Alten - man nannte es das Neue. Es klang gut. Mancher arbeitete in einem Beruf, in dem dieser gute, reibungslose Klang fast alles war. Man blieb, weil einem die Frage der Abkehr vom politischen Grundkonsens nie gestellt wurde. Weil es also nie eine persönliche Lage gab, diese Frage des Hinwerfens aufzuwerfen, es war immer die Frage von Leuten, die man nicht kannte. Am System Verzweifelnde, sie berührten eigenes Leben nicht. Oder man hatte Instinkt entwickelt, ihnen auszuweichen.

Mancher blieb also, weil er nie in wirklich bittere politische Diskussionen hineingeriet, in denen ein tiefenwirkender Konflikt hätte aufgerufen werden können. Man dachte nicht darüber nach, was Dialektik wirklich ist: »Jedes Problem hat fünfzig Seiten«, schrieb Thomas Brasch. Für viele, zum Denken zu kraftlos, hatte ein Widerspruch nur zwei Seiten: die eigene richtige und die falsche der anderen. Ruge lässt die Konflikte um dieses Prinzip sich unvermeidlich aufeinander zu bewegen. Mit verblüffender Komik.

Man blieb harter Parteigänger, weil die Bundesrepublik kapitalistisch war. Weil man viel Ungemach des eigenen Systems als »Kinderkrankheit« abwiegelte. Man hatte gelernt, wegzusehen. Manches wusste man nicht, man kannte nur das Hohenschönhausen der Neubauten, nicht die dortige Hölle im Dienste der Staatssicherheit.

Man blieb, weil man zu bequem war. Oder zu feige. Oder weil man Flucht für Feigheit hielt, Hierbleiben jedoch für die unbequeme Entscheidung. Man blieb, weil man unbeschwert lebte. Oder: Weil man es sich, für eine bessere Zukunft, schwer machen wollte. Weil man ein bisschen Macht genießen und sich gleichzeitig damit beruhigen durfte, diese Macht bestünde vor allem aus sehr viel Arbeit. Man nahm sich - etwa als Funktionär - die Arbeit heraus. Man nahm sie - als Rotgläubiger - aus der Wirklichkeit heraus, so blieb sie rein wie die Lehre. Die längst blutig warnleuchtete. Ruges Roman zeigt eine treue, giftig werdende, gallig auftrumpfende, ins Selbstgefällige kippende Funktionärsschicht - Gegenwelt zu Uwe Tellkamps »Turm«-Gesellschaft der elitären, sich noch in der Verzweiflung stilvoll abkapselnden Intelligenz. Nur in der Schilderung eines grauenhaft peinigenden NVA-Alltags sind sich beide Bücher erschreckend ähnlich.

Man blieb, weil man Pflichtgefühl besaß, ein Ideal, das es nicht verdiente, durch Realität beschmutzt zu werden. Und es gab doch Erfolgserlebnisse!: beim Wagnis, hin und wieder eine kleine Grenze zu übertreten und den Gegenwind auszuhalten. Immer wollte man nur kleine Grenzen überschreiten, nicht diese eine große. Für die große Grenze galt ein Gesetz, das man anerkannte. Man blieb, weil Chile, Vietnam, Südafrika einen bestärkten, für die richtige Welt zu kämpfen. Weil einem Russen näher waren als US-Amerikaner. Man blieb, weil man sich sagte: Wenn nun jeder abhauen wollte, was dann ... Man blieb, weil man in der Partei Leute kannte, die man nicht enttäuschen wollte, Selbstlose mit einem einzigen Privileg: sich mit Lust und Pflichtempfinden Größeres abzufordern als andere.

Man blieb, weil es doch Sinn behalten musste, dass antifaschistische Exilanten einst in dieses Land gekommen und kritische Künstler in ihm geblieben waren, ernst genommen von der zwar »brutal materialistischen und bis zum Zynismus pragmatischen, doch gleichzeitig tief vergeistigten« SED-Herrschaft (Stefan Wolle).

Man blieb, weil man sich, im Grunde, keine Gedanken machte. Oder weil der Gedanke überzeugte, im Sozialismus würde alle unwürdige Arbeit abgeschafft, besonders für Arbeiter. Man blieb, weil materieller Mangel nicht bedrückte. Weil die DDR eine Gewöhnungssache war, wie alles Leben, und man sich also fügte, ohne Selbstbeschränkung zu empfinden. Man sagte grundsätzlich lieber Ja als Nein - vielleicht der genetisch festgelegte Grund, warum der eine zum Querulanten wird, ein anderer aber zur Stromlinie neigt; der eine aufsässig, der andere unterwürfig; der eine läuft weg, wo der andere mitläuft.

Am Ende: viele Gründe, in der DDR zu bleiben, innniglich verknotet wie ein Teig, wie es bei Kleist heißt. Ruge erzählt: Hätte man die hochmoralischen dieser Gründe ernst genommen, hätte einen vielleicht beizeiten ein Erschrecken gepackt, wie wenig festen Grund sie haben durften in einer verlässlichen Mehrheit. Was so sehr angezogen hatte an dieser DDR, es wird in diesem Buch unaufhaltsam identisch mit dem, was abstieß. Das war der Missbrauch von Marx: Sein Werk wurde mit einer Politik gleichgesetzt, die sich aus dem Primat der sozialen Verhältnisse das Recht nahm, den Einzelnen auf genau jenes Maß zu bringen (zu stutzen), das der gesellschaftlichen Machthabe nutzte. Aber was ist ein gesellschaftliches Mühen noch wert, wenn man eines Tages nicht mehr wahrhaben will, dass Menschen viel Klugheit, viel List, viel Kraft und oft alle Selbstüberwindung verschwenden müssen, um dem System das wirklich Gewollte nur immer in Kleinstmengen - abzutrotzen.

Diese elende Arbeit, nur noch Müdigkeiten zu übermalen.

Darüber nachzudenken, die Qual dessen nicht loszuwerden, das ist der Lockruf des Buches. Das einfach nur erzählt (einfach nur - das ist die Meisterschaft!), in lauterer Zuwendung noch zum gröbsten Mitglied seiner disparaten und doch zusammenklebenden Menschenfamilie. Und so heiter!, an unerwarteten Stellen.

Vielleicht ist wirklich gute Literatur mit einem Quantum Traurigkeit gründlicher versehen als mit jenen fröhlichen Ausrufen, in der richtigen Welt zu leben. Vielleicht darf der aufbauende Geist, um glaubwürdig zu wirken, nie ganz die Verwandtschaft zu Scheitern und Tragödie verleugnen. Romane sind bedeutsam, weil sie im Schauder der erniedrigenden Welt doch den liebenden, sehnenden Menschen feiern; die Liebe zum Leben ist stärker als das Erniedrigende, aber sie ist auch gefährdeter, dünnhäutiger; sie ist das Beständige in ewigem Spießrutenlauf. Das lehrt Tschechow, der seine DDR-Romane nun erst schreiben darf, da alles vorbei ist.

So viele edle und elende Gründe, in der DDR geblieben zu sein. Ruge erzählt sie, schon sind wir im schönsten Labyrinth. Der Preis für diesen Roman - dem schon Untergründe eines Filmdrehbuchs anzumerken sind - ist eine Ehrung gegen die törichte, DDR auf Kürzel stauchende Geschichtssicht. Ein Roman ist das, der diese Republik auf Zeit aus ihrem Siegesdoping herausreißt, und siehe da, die Leute schließen in ihrer Größe, in ihrer Nichtigkeit und Feigheit, in ihrer Böseseelenkraft und List und Lügenfähigkeit gleichsam spielend auf zu Gestalten der guten alten bürgerlichen Entwicklungsprosa. Die DDR als Provinz. Also: Welt.

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