Globalisierung von unten
Etwas Neues bahnt sich ameisengleich den Weg. Es ist hochpolitisch und doch trotzt es aller Vereinnahmung durch politische Parteien. Es kommt in chaotischer Formation und ohne einheitliches Kommando. Und es kommt mit dem Zelt. Eine Massentrekkingbewegung scheint da vom Weg abgekommen, der 99 Prozent der Menschen zugedacht ist, für alle Zeit, damit sie dem einen Prozent auf den Mund starren, das über ihre Geschicke entscheidet, über ihre Verwertung ebenso wie über die von Rohstoffen, von Gütern, von Finanzen, von Leben.
Wie aus dem Nichts tauchten die Menschen am Wochenende auf. Die Rede ist von 950 bis 1300 Städten in 80 Ländern weltweit, in denen sie sich versammelten, mit Vorliebe dort, wo sie die Zentralen der Macht identifizierten, der politischen wie der Macht des Geldes. Quasi am Fuße der oberen Zehntausend ließen sie sich nieder. Hunderttausende. Und sie sandten ihre Botschaft hinauf: »Wir sind die 99 Prozent«, eine Selbstvergewisserung, die wie die Adaption einer bekannten Losung vor 20 Jahren klingt. »Wir sind das Volk«.
Nicht überall blieb die Stimmung freundlich, bei Zusammenstößen in Rom, wo über 200 000 Menschen protestierten, wurden 70 Demonstranten verletzt. In Berlin kam es zu Rangeleien, als Demonstranten dem Bundestag zu nahe kamen, um ihre Zelte aufzuschlagen. 40 000 Demonstranten wurden in Deutschland gezählt, vor der Europäischen Zentralbank in Frankfurt am Main bezogen 200 Menschen aufgebaute Zelte. In New York, dort gibt die Bewegung »Occupy Wall Street« seit Wochen den Ton vor, wurden Dutzende Demonstranten festgenommen. In Madrid, wo die Bewegung der »Indignados«, der Entrüsteten, ihren Anfang nahm, liefen die Massen zusammen, wie in Lissabon, Athen, London, Paris, Brüssel, Amsterdam und Den Haag. 6000 Menschen versammelten sich in Brüssel (Foto: AFP), wo in einer Woche die EU-Spitzen auf einem Gipfel ihr Bankenrettungspaket beschließen wollen.
Ein erstaunlicher Zug ist da entstanden. Elektronisch vernetzt, ist das neu entdeckte Gefühl der Gemeinsamkeit zugleich ein uraltes, als Nachrichten übers Meer Wochen brauchten. Der jugendliche Sprecher der Bewegung Occupy-Frankfurt wird mit den Worten zitiert: »So etwas hat es in der Geschichte noch nicht gegeben. Auf der ganzen Welt demonstrieren Menschen gegen dasselbe.« Es ist deshalb ein schwächlicher Einwand: Dieser Zug der Zelter sei nur eine kleine Minderheit, die wirklichen 99 Prozent seien zu Hause geblieben. Er verschließt die Augen vor dem Neuen dieses Wochenendes. Vor der viel beschworenen Macht der Globalisierung. Die nun plötzlich auch eine von unten ist.
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