Rauchende Ruinen und Rachegelüste
Libyen: Nach Einnahme von Bani Walid müssen Gefangene um Gesundheit und Leben fürchten
Tausende Milizenkämpfer feierten die Einnahme der Wüstenstadt Bani Walid, 170 Kilometer südöstlich von Tripolis. Die Kämpfer, die aus den Gefechtsstellungen in der ganzen Stadt sowie den umliegenden Stützpunkten zusammenströmten, sammelten sich auf dem Werfala-Platz im Zentrum und jubelten bis in die tiefe Nacht. Sie feuerten mit ihren Waffen in die Luft, umarmten sich, sangen Siegeslieder. Einer der Milizionäre erklärte: »Bani Walid ist endlich frei. Dies ist ein feierlicher Augenblick für das libysche Volk.« Maschinengewehre und Luftabwehrgeschütze wurden gleichzeitig abgefeuert, die Sirenen der Krankenwagen heulten, um den Platz fahrende Autos hupten und Männer schrien »Gott ist groß«.
Die 20 000-Einwohner-Stadt liegt im Landesinneren. Bis zum Montagmorgen wurde sie noch von 1500 Gaddafi-treuen Kämpfern kontrolliert. Die Truppen des Übergangsrates setzten bei ihrem Vormarsch schwere Artillerie ein und drangen anschließend von Süden und Norden in die Stadt vor. Diesmal gelang ihnen, was vor einer Woche noch gescheitert war: Sie nahmen Bani Walid ein. Bei ihrem Vorstoß vor einer Woche hatten sie sich wieder zurückziehen und neu formieren müssen. Die NATO-Truppen gaben Luftunterstützung bei der Einnahme und bombardierten Stellungen der Gaddafi-Truppen. Vor den zerbombten Ruinen lassen sich nun Milizionäre fotografieren.
Die Wohnviertel von Bani Walid sind wie ausgestorben. Nur die Patrouillen der neuen Machthaber, die einem allenthalben begegnen, stören die Stille mit ihrem Freudenfeuer. Während vieler Stunden ist kein einziger Bewohner zu sehen. Alle Zivilisten haben in den vergangenen Wochen die schwer umkämpfte Gaddafi-Hochburg verlassen. Türen und Fenster zu allen Häusern stehen nun weit offen, sie wurden von den Milizen nach sich versteckenden Verteidigern durchsucht.
Auch die schweren Eisentore zum Anwesen von Hamza Tuhami, Muammar al-Gaddafis Sprecher im Staatsfernsehen, stehen offen. Aufgeschreckte Pferde laufen zwischen den Villen umher. Die Milizionäre zwingen ein halbes Dutzend gefangener Schwarzafrikaner, die Häuser auszuräumen. Fernseher, Matratzen, Konservendosen, eine Stereoanlage, Spielzeug ... Alles, was von Wert ist, müssen die als Söldner geltenden Männer auf Lastwagen und Pickups verladen. Während ein junger Nigerianer eine schwere Kiste Konserven trägt, wird er von einem der Milizionäre so heftig getreten, dass ihm die Kiste aus den Händen gleitet. Umgehend drischt der Kämpfer mit dem Gewehrkolben auf den Misshandelten ein. »Das sind schlimme Männer, die viele unserer Kameraden getötet haben«, rechtfertigt der Milizionär sein Verhalten.
Der große Mafraj (arabisches Wohnzimmer) von Hamza Tuhami dient als provisorisches Gefangenlager für die mutmaßlichen Söldner. Hier sitzen dicht gedrängt nebeneinander Menschen aus Sudan, Tschad, Mali, Nigeria und Mauretanien. Einer von ihnen blutet aus der Nase und dem linken Ohr. Ein anderer hat ein zerrissenes Hemd, das den Blick auf furchtbare Narben freigibt.
Immer wieder wechseln die Wachen, die sich ihre Zeit mit dem Beschimpfen der Gefangenen vertreiben. Über einen, der arg malträtiert wurde und zusammengekauert in einer Ecke sitzt, heißt es, er sei Scharfschütze gewesen. Die furchterfüllten Augen des Mannes lassen ahnen, dass ihm Übles schwant, sobald der Besucher wieder fort ist.
Bereits kurz nach der Einnahme musste ein Dutzend Kämpfer einen Milizionär aufhalten, dessen Bruder kurz zuvor bei einem der letzten Gefechte erschossen wurde. Der Mann wollte mit vorgehaltener Automatikwaffe in eines der Gefangenenlager eindringen. Er konnte gestoppt werden. Einer der Männer, die den Aufgebrachten in Schach halten, sagt entschuldigend: »Er ist sehr wütend über den Verlust seines Bruders. Es war eine blutige Schlacht in Bani Walid und einige sinnen auf Rache. Aber wir werden versuchen, das zu verhindern.«
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.