Der neue Protest und die Linksparteien
Erneut wird in Erfurt über das Verhältnis von Bewegungen und Parteien diskutiert werden
Die europäische Politik ist endgültig an den Finanzbörsen angelangt. Nicht mit ihren Inhalten, die sind wohl nur für die wenigsten Aktienhändler von Interesse. Wohl aber, was die Geschwindigkeit von Entscheidungen betrifft. Die europäischen Staats- und Regierungschefs eilen von einem Gipfel zum nächsten, treffen in kürzester Zeit Entscheidungen über An- und Verkauf, fast so wie auf dem spekulationsträchtigen Börsenparkett.
Folge dieser neuen »politischen Geschwindigkeit« ist unter anderem, dass in den letzten Jahren kaum eine Regierung in Europa über eine volle Wahlperiode gekommen ist. Vertrauensfragen und vorgezogene Neuwahlen gelten vom Süden bis in den Norden kaum noch als die letzte politische Handlungsoption. Im Gegenteil, sie sind beinahe zur Normalität geworden. Ob in Griechenland, Portugal, Dänemark oder im kommenden November in Spanien - der Ruf der politischen Klasse nach vorgezogenen Urnengängen wird fast schon inflationär benutzt. Dass sich dadurch etwas für die Wählerinnen und Wähler zum Positiven verändert, darf bezweifelt werden.
Zweifel, Wut und Enttäuschung, aber auch alternative Zukunfts- und Politikvorstellungen treiben die Menschen in Europa zunehmend weniger in die Wahlkabinen, dagegen öfter auf die Straßen der Regierungs- und Börsenmetropolen. Dieser Protest ist insgesamt gesehen ein kleiner, doch er ist bunt und laut. Und er bietet vielerlei Andockmöglichkeiten für linke, progressive und fortschrittliche politische Forderungen. Der Protest ist damit nicht per se links - das ist er selten. Aber es würde sich gerade deshalb lohnen, um die Inhalte dieser neuen Protestbewegung zu kämpfen.
Dennoch tut sich die parteipolitische Linke in Europa schwer, ihren Platz in oder neben den neuen Protestbewegungen zu finden. Einerseits ist es von manchen Protestierenden gar nicht gewünscht, dass sich Parteien oder Gewerkschaften anschließen. Die Angst vor Vereinnahmung ist, nicht ganz unberechtigt, zu groß. Zum anderen ist aber eine Bewegung, die sich organisierten Formen des Widerstands verschließt - zu denen linke und sozialistische Parteien in kapitalistisch organisierten Staaten gehören -, eben auch nicht offen für die gesamte gesellschaftliche Bandbreite. Und damit ist letztlich ihr Potenzial für umfassende Veränderungen limitiert. Wohl auch deshalb haben einige Linksparteien ihre Probleme mit »der Bewegung«.
Am 15. Oktober sind nicht nur in Deutschland viele Menschen für Demokratie, Solidarität und soziale Gerechtigkeit auf die Straßen gegangen. In ganz Europa haben sich Hunderttausende den Protesten angeschlossen und es wird mit Sicherheit nicht der letzte Aktionstag bleiben. Die parteipolitische Linke, in Deutschland wie in Europa, hat diese Demonstrationen von sich heraus unterstützt und befördert. Dennoch ist es ihr bis heute nicht gelungen, ihr Verhältnis zu der sich gerade herausbildenden neuen, noch unstrukturierten Bewegung zu klären. Reicht es aus, als eine Organisation unter vielen auch noch einen Aufruf zur Teilnahme zu veröffentlichen, wie es die Europäische Linkspartei (EL) oder die deutsche LINKE getan haben? Reicht es aus, die eigene Mitgliedschaft zu mobilisieren und mit den üblichen roten Fahnen für Demonstrationsblöcke auszustatten? Oder zeugt es von mehr Respekt vor den Aktivisten, an den Demonstrationen teilzunehmen, ohne sich als Parteigänger zu erkennen zu geben? Wie geht die parteipolitische Linke eigentlich mit dem Widerspruch um, dass, obwohl sie in Opposition zum vorherrschenden politischen System steht, dennoch von vielen aus der neuen Protestbewegung als Teil des Systems betrachtet und damit genauso abgelehnt wird wie ihre konservativer Kontrahenten?
Auf all diese und weitere Fragen haben heute weder die Europäische Linke noch deren Mitgliedsparteien hinreichende Antworten. Zumindest die LINKE hat auf dem Erfurter Programmparteitag nun Gelegenheit, diese Probleme anzugehen.
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