Reformbilanz ist ein einziges Desaster

Peter Wahl über das Treffen in Cannes und zivilgesellschaftliche Herausforderungen

  • Lesedauer: 5 Min.
Vor dem Hintergrund der Euro-Krise kommen die Staats- und Regierungschefs der 20 führenden Industrie- und Schwellenländer (G20) diese Woche im südfranzösischen Cannes zusammen. Neben der Euro-Krise sollen die Reform des internationalen Währungssystems, der Abbau globaler Ungleichgewichte, eine weitere Regulierung der Finanzmärkte und die Begrenzung der Rohstoff- und Nahrungsspekulation weitere Schwerpunktthemen des Treffens bilden. Mit Peter Wahl sprach MARTIN LING.
PETER WAHL ist Mitarbeiter der Nichtregierungsorganisation WEED (Weltwirtschaft, Ökologie & Entwicklung) und Spezialist für die Regulierung des internationalen Finanzsystems sowie Mitbegründer des globalisierungskritischen Netzwerks Attac Deutschland. Er weilt während des G20-Gipfels in Cannes.
PETER WAHL ist Mitarbeiter der Nichtregierungsorganisation WEED (Weltwirtschaft, Ökologie & Entwicklung) und Spezialist für die Regulierung des internationalen Finanzsystems sowie Mitbegründer des globalisierungskritischen Netzwerks Attac Deutschland. Er weilt während des G20-Gipfels in Cannes.

ND: Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy wollte in Cannes im Kern ein neues Währungs- und Finanzsystem anpeilen. Jetzt wird das Treffen durch die Ankündigung von Griechenlands Ministerpräsident Giorgos Papandreou überlagert, ein Referendum über den Sparkurs dort einzuberufen. Droht die Eurokrise alle anderen Themen in den Hintergrund zu schieben?
Wahl: Zu einem gewissen Teil sicherlich. Andererseits sind die anderen Themen so drängend und bedeutend, dass sie nicht einfach zu ignorieren sind: Zum Beispiel das erwähnte Thema der Währungsproblematik, das der brasilianische Finanzminister Guido Mantega vor Jahresfrist sogar als »Währungskrieg« eingestuft hat, sowie die extremen globalen Handelsungleichgewichte zwischen Export- und Importländern.

In Sachen Staatsverschuldung wurde bereits beim G20-Gipfel in Toronto im Juni 2010 von den Staaten die Selbstverpflichtung abgegeben, die Haushaltsdefizite bis 2013 zu halbieren und die Staatsschuld bis 2016. Das klingt mehr denn je illusorisch, oder?
Ja, das ist eine große Illusion. Die Krise ist seit ihrem Beginn 2007 in den USA immer wieder unterschätzt worden. Hinzu kommt, dass die Art und Weise des Krisenmanagements die Krise noch verschärfte. Das beste Beispiel ist Griechenland. Die Austeritätsprogramme, die wir schon vor einem Jahr kritisierten, haben die Wirtschaft des Landes in den Ruin getrieben. Die Konjunktur und mit ihr die Steuereinnahmen sind massiv eingebrochen, Griechenland ist in einer tiefen Rezension. So lässt sich keine Schuldenkrise lösen. In Griechenland wird Öl ins Feuer gegossen.

Neben dem Problem ausufernder Staatsschulden wollten die G20 seit ihrem ersten offiziellen Treffen im November 2008 vor allem die Ungleichgewichte auf Handels- und Devisenmärkten begrenzen sowie die Großbanken auf ein verträgliches Maß zurechtstutzen, damit sie nicht mehr bei einem Konkurs das ganze System gefährden. Es sollte das Prinzip gelten »Kein Markt, kein Produkt, kein Akteur ohne Aufsicht«. Was ist daraus drei Jahre später geworden?
Außer großen Absichtserklärungen ist nicht viel gewesen. In den USA gibt es zwar ein sehr großes Reformpaket, in dem einige durchaus richtige Schritte enthalten sind. Das wird aber durch die Republikaner mit ihrer Mehrheit im Repräsentantenhaus blockiert. In der EU sind zwar auch die einen oder anderen Direktiven entweder in der Pipeline oder sogar verabschiedet, wie eine neue Aufsichtsstruktur über das Finanzwesen. Aber wir erleben es im Moment: Bevor die Änderungen überhaupt implementiert sind, ist schon die nächste da. Insgesamt ist alles zu wenig, zu langsam und kommt zu spät - die Bilanz ist ein einziges Desaster. Wenn bei diesem Gipfel nichts ernsthaft gegen die Macht der Märkte unternommen wird, werden noch einige Krisen ins Land gehen.

Der bekannte Soziologe Ulrich Beck hat gerade in einem Essay in der »taz« die Hoffnung geäußert, dass die Krise einen machtpolitischen Raum öffnet, der einem Bündnis zwischen globalen Protestbewegungen und nationalstaatlicher Politik ermöglichen könnte, das Primat der Politik über die Ökonomie wieder durchzusetzen. Eine Option in Cannes?
Eine vage. Die Krise hat dazu geführt, dass die Funktionseliten in der ganzen Welt gespalten sind. Es gibt einige, die durchaus in Teilbereichen reformoffen sind. So gibt es einige Regierungen, die die Finanztransaktionssteuer einführen wollen und die tatsächlich eine stärkere Regulierung der Märkte und ihrer Akteure befürworten. Es gibt aber auch andere, die versuchen, das zu blockieren. Bestes Beispiel ist die Finanztransaktionssteuer. Viele EU-Staaten und die EU-Kommission sind im Prinzip inzwischen dafür. Großbritannien stemmt sich aber mit aller Macht dagegen. Dahinter stecken massive ökonomische Interessen. Das britische Sozialprodukt ist zu zehn Prozent direkt vom Finanzmarktdistrikt in der Londoner City abhängig und weitere zehn Prozent hängen indirekt dran. Das heißt, substanzielle Reformen setzen Strukturanpassungen in den entsprechenden Volkswirtschaften voraus. Dagegen gibt es großen Widerstand. Noch dramatischer ist das in den USA, wo die Wall Street immensen Einfluss auf die Politik nimmt.

Unter anderem die globale »Occupy-Wall-Street-Bewegung« begehrt dagegen auf. Hat dieser Protest eine neue Qualität?
Es ist sehr gut, dass diese Bewegungen entstehen. Wir versuchen auch in Cannes, von Seiten der Zivilgesellschaft Druck zu entfalten. Dienstag hat es eine Demonstration mit über 10 000 Teilnehmern gegeben. Insgesamt brauchen wir jedoch noch viel mehr Druck von unten und eine größere Mobilisierung, um das Primat der Politik zurückzugewinnen.


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Seit Mitte der siebziger Jahre trafen sich bei den jährlichen G7-Gipfeln die größten Industriestaaten. Neben den G4 (Deutschland, Großbritannien, Frankreich und Italien) waren das die USA, Kanada, und Japan. 1998 wurde die G7 um Russland zur G8 erweitert. Von der reinen Wirtschaftsleistung her müsste längst auch China zu dieser Gruppe gehören.

China gehört zur G20. Dazu kommen die EU und 18 Staaten: Argentinien, Australien, Brasilien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Kanada, Indien, Indonesien, Italien, Japan, Mexiko, Russland, Saudi-Arabien, Südafrika, Südkorea, Türkei und die USA. Die G20 wurde 1999 als Reaktion auf die Finanzkrise in Brasilien, Russland und schließlich Asien zunächst auf Finanzministerebene eingerichtet. Infolge der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise kamen 2008 erstmals die Staats- und Regierungschefs der Gruppe zusammen. 2009 wurde die Runde der G20 zum »obersten Forum für unsere internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit« aufgewertet.

Die G20 repräsentieren zwei Drittel der Weltbevölkerung und rund 85 Prozent der weltweiten Wirtschaftskraft, aber nur einen Bruchteil der über 190 Staaten auf dem Globus.

Der französische Badeort Cannes wird während des G20-Gipfels für Kosten von schätzungsweise 20 Millionen Euro in ein streng abgeschottetes Sperrgebiet verwandelt. Dafür werden rund 12 000 Sicherheitskräfte eingesetzt. Bereits seit Ende Oktober gibt es an der nahe gelegenen französisch-italienischen Grenze scharfe Kontrollen, um die Einreise von polizeibekannten ausländischen Randalierern und Gipfel-Gegnern zu verhindern. Seit diesem Dienstag dürfen Besucher den Bereich um die Flaniermeile Boulevard de la Croisette nicht mehr betreten. Dort liegen der Tagungsort und zahlreiche Hotels für die Gipfelteilnehmer. Urlauber und Einwohner müssen sogar im Hinterland und am Wasser mit erheblichen Einschränkungen rechnen. ND

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