Große müssen teilen

Karlsruhe kippt die Fünfprozenthürde für die Europawahl, wiederholt werden muss die letzte aber nicht

Die Sperrklausel verstößt bei der Europawahl gegen die Wahlrechtsgleichheit und die Chancengleichheit von Parteien. Bei der Bundestagswahl gilt sie fort.

Gestern war ein guter Tag für kleine Parteien wie die ÖDP oder die Piraten: Sie haben bei der nächsten Europawahl 2014 zum ersten Mal eine reale Chance, Vertreter nach Straßburg zu schicken. Denn dann wird es keine Fünfprozenthürde mehr geben, an der sie bislang gescheitert sind. Das Bundesverfassungsgericht erklärte die Sperrklausel bei Europawahlen am Mittwoch für verfassungswidrig, denn es sieht keinen »zwingenden Grund« für die diesen schwerwiegenden Eingriff in die Wahlrechtsgleichheit und die Chancengleichheit von Parteien. Wiederholt werden muss die letzte Wahl jedoch nicht.

Bislang fallen die Stimmen für Unter-Fünf-Prozent-Parteien unter den Tisch, rund drei Millionen waren es schätzungsweise 2009. Genauer, sie werden den erfolgreichen Parteien zugeschlagen, die dadurch mehr Sitze bekommen. Dieser Ausschluss wurde bislang damit gerechtfertigt, dass so die Stabilität des Parlaments gesichert werde. Die Mehrheit des Zweiten Senats - drei der acht Richter sahen es anders - findet diese Argumentation inzwischen nicht mehr überzeugend. 1979 hatten die Verfassungsrichter die Klausel noch bestätigt, aus Sorge, ein Europaparlament mit vielen Splitterparteien könnte der starken Kommission nichts entgegensetzen. 30 Jahre später und fast 20 EU-Mitglieder mehr betonen sie nun die positiven Erfahrungen und zugleich einen grundlegenden Unterschied zur Bundestagswahl, bei der die Hürde weiter gilt. Denn während hier stabile Mehrheiten für die Handlungsfähigkeit der Regierung nötig seien, sei das europäische Parlament davon weniger abhängig. Denn es wählt keine Regierung. Auch die Gesetzgebung folge anderen Mechanismen.

Ohne die Hürde wären 2009 sieben weitere deutsche Parteien ins Europaparlament eingezogen. Die Mandatsverteilung hätte sich nur geringfügig verändert: So hätten die Freien Wähler zwei Sitze erhalten, je einer wäre an die ÖDP, die Republikaner, die Familien-Partei, die Piraten, die Rentner-Partei und die Tierschutzpartei gegangen. Die Verfassungsrichter erwarten durchaus, dass es künftig mehr werden könnten. Sie glauben jedoch nicht, dass die Funktionsfähigkeit des Europaparlaments auf dem Spiel steht, weil zu den bislang 162 Parteien noch ein paar hinzukommen. Sie vertrauen vielmehr auf die organisierten Großfraktionen im Parlament, die auch künftig in der Lage sein würden, weitere Zwerge zu integrieren. Das sei schließlich bisher auch gelungen, als im Zuge der Erweiterung immer neue Parteien mit einer großen politischen Bandbreite die europäische Bühne betraten.

Die obersten Richter räumen ein: Leichter wird es sicher nicht, Mehrheiten zu bekommen, aber salopp ausgedrückt sagen sie auch: »So what«, Demokratie ist halt nicht einfach. Die »allgemeine und abstrakte Behauptung«, die Willensbildung würde erschwert, rechtfertigt den Eingriff jedenfalls nicht.

Die Verfassungsrichter sehen sich in Sachen Wahlrecht ganz besonders in der Rolle, den Bundestagsabgeordneten auf die Finger zu schauen. Schließlich werde die parlamentarische Mehrheit gewissermaßen »in eigener Sache« tätig, wie Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle erklärte. Dabei sahen die Richter die Gefahr, dass die im Bundestag vertretenen Parteien sich mit einer Sperrklausel Konkurrenz vom Hals halten könnten. Mit Ausnahme der LINKEN hatten seinerzeit alle Parteien die Beschwerde gegen die Klausel im Bundestag abgelehnt.

Minderheitenvotum

Die Richter Rudolf Mellinghoff und Udo di Fabio kritisierten den Urteilsspruch in einem Sondervotum. Ihrer Ansicht nach ist die Sperrklausel zulässig, weil es durch zunehmende gesetzgeberische Kompetenzen des Europäischen Parlaments unerlässlich sei, einer Zersplitterung durch Vertreter kleiner politischer Gruppierungen entgegenzuwirken. Zudem sehen sie insbesondere Wahlrechtsfragen der »politischen Gestaltung des Gesetzgebers unterworfen«, das Gericht müsse sich deshalb zurückhalten.

Die Europawahl angefochten hatte eine Gruppe um den Staatsrechtler Hans-Herbert von Arnim. Sie scheiterte jedoch mit einer weiteren Kritik: So wollten sie auch die Regel kippen, dass Wähler die Reihenfolge der Kandidaten auf den Listen nicht ändern können. Das könnten die Mitgliedstaaten halten, wie sie wollen, befand das Gericht. Kommentar Seite 4

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