In einer Gemeinde im Fläming befürchten Betroffene eine erschreckende Häufung von Krebsfällen
Christina Matte
Lesedauer: 10 Min.
Wer BILD will, bekommt BILD, und das ist auch gut so. Auf einige Dinge in dieser Welt wollen wir uns verlassen können.
Wer BILD will, bekommt eine »Geschichte«. Aufsehen erregend, schockierend, dass einem das Blut in den Adern gerinnt - auch wenn an der Geschichte wenig, zuweilen überhaupt nichts stimmt.
Ilona und Gerd Michael wollten Aufsehen erregen. Besser: Sie wollten Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit für einen Verdacht, der sie seit einiger Zeit beschäftigt. Ilona Michael leidet an Schilddrüsenkrebs. Die 44-Jährige wohnt von Kind an in Brück im Fläming. Brück ist eine kleine Gemeinde, ein Dorf, in dem laut eigener Website 3700 Menschen leben. Zum Beispiel auch Helene Dittrich, eine Rentnerin, 77, bei der man Brustkrebs feststellte. Und Hans-Joachim Ziezow, 47, der an Leukämie erkrankt ist. Und, und, und... Man kennt sich in Brück. Niemand weiß heute genau, wann der Verdacht erstmals aufkeimte und wer ihn als Erster äußerte.
Vielleicht war es einer der Patienten, die zur Strahlentherapie in die Ernst von Bergmann-Klinik der Landeshauptstadt Potsdam fahren. Eines schönen Tages soll Chefärztin Dr. Rita Pasold erstaunt die Stirn gekraust haben: »Was denn, Sie kommen alle aus Brück? Da können wir ja gleich einen Bus hinschicken.« Die Onkologin ahnte nicht, was ihre Bemerkung auslöste. Oder welchen Verdacht sie damit stützte: Heute sagt sie: »Das ist doch völlig absurd! Wir schicken öfter Sammeltaxis, um die Leute abzuholen. Das lässt keine, absolut keine Rückschlüsse auf die Häufigkeit der Erkrankungen in einem Ort zu.«
Vielleicht war es auch Dr. Doris Schemel. Der Hausärztin fiel irgendwann auf, dass sie innerhalb von nur zwei Jahren sieben Patienten behandelte, die an Krebs erkrankt waren - alle an derselben Art, und alle wohnten in einer Straße.
Oder war es Dr. Wilmar Olze, jener Internist in Belzig, der vier gleichaltrige Patienten mit Blutkrebs aus Brück betreute? Olze sagt: »Klar kann das Zufall sein. Aber wenn es keiner ist?«
Vielleicht waren es Michaels selbst. Betroffene fragen: Warum gerade ich? Was, wenn mein Schicksal kein Zufall wäre, wenn es einen Schuldigen gäbe? Fest steht, Michaels waren es, die beschlossen, sich mit dem Verdacht an die Öffentlichkeit zu wenden. Sie informierten »Focus« und »Spiegel«; beide zeigten sich nicht interessiert. BILD wies sie nicht ab, von BILD bekamen Michaels, was sie sich wünschten.
Denn BILD »recherchierte« das Drama von Brück. »Krebs. Er hat sich ein ganzes Dorf geholt«, titelte die Zeitung Teil I des Berichts, der an zwei aufeinander folgenden Tagen, bei ansonsten ruhiger Nachrichtenlage, jeweils eine Seite füllte. »Wenn Sie das Blatt aufschlagen, erschrecken Sie nicht, wir sind nun mal BILD«, hatte der Reporter gewarnt. Und Michaels erschraken nicht.
Aber Helene Dittrich erschrak. Über ein Luftbild von Brück hatte BILD eine kleine Galerie von Krebskranken des Ortes gelegt - und da sah sie also ihr Foto neben denen bereits Verstorbener. Helene Dittrich, deren Brustkrebs bereits früh erkannt wurde, so dass sie sich Chancen auf Heilung ausrechnet, fand die Montage reichlich makaber. Auch Maria Patiga erschrak. Wie Helene Dittrich hofft sie, den Brustkrebs überwunden zu haben. Landrat Koch, Bürgermeister Borgmann und Amtsärztin Aulich erschraken... Das immerhin war beabsichtigt.
BILD »wies nach«, dass der Krebs in Brück in jedem siebzehnten (!) Bürger wuchert. Dazu kämen die, die es noch nicht wissen. BILD errechnete das wie folgt: Bei 3500 Einwohnern (statt der 3700, die die Gemeinde selbst angibt) fänden sich allein in der Kartei der ortsansässigen Arztpraxis 150 Krebsfälle. Addiert man die Fälle weiterer Ärzte, (die freilich nur geschätzt werden), ergäben sich 200 Fälle. Nun brauchen wir den Taschenrechner: 3500 geteilt durch 200 ergibt 17,5 - womit BILD erst mal Recht hätte.
Jeder siebzehnte Brücker krebskrank! Weiß man, dass es nach Schätzungen des Robert Koch-Instituts pro Jahr in der Bundesrepublik jeden 238. trifft, ist die Zahl ungeheuerlich. Und es muss eine Ursache geben. Die alten NVA-Anlagen? Friedbert Enders, 48, ehemals bei der NVA, heute Oberstleutnant der Bundeswehr, öffnete die Bunker für BILD - keine Spur von Stoffen, die Krebs erregen. Und Enders versicherte, zu DDR-Zeiten seien hier nur Boden-Boden-Raketen gelagert worden, ohne atomare Sprengköpfe. BILD fragt:
»Aber gab es vielleicht auch Dinge, von denen er nichts wusste?« Man muss einen Verdacht nicht entkräften. Vor allem dann nicht, wenn man gar nicht möchte.
Möchte man, gibt es Möglichkeiten. Zum Beispiel kann man in der Praxis, in der BILD 150 Fälle fand, bei den Ärzten vorsprechen. Sie werden bitten, in der Zeitung namentlich nicht genannt zu werden und die 150 Fälle unumwunden bestätigen. Allerdings mit der Einschränkung, dass die sich über einen Zeitraum von exakt zehn Jahren verteilen. Dann kann man sich bei Roland Stabenow vom Gemeinsamen Krebsregister der neuen Länder und Berlins mit der nötigen Sachkunde ausstatten. Stabenow wird ausrufen: »150 durch 10? Das sind 15 pro Jahr. Ich würde sagen, der glatte Normalfall!«
Der glatte Normalfall? In wessen Seele auch nur ein kleiner Sherlock Holmes wohnt, der wird in solchen Momenten der Spannung den Rechner nicht aus der Hand legen. Also: Im Bundesdurchschnitt erkrankt jeder 238. Wobei die Zahl stark differiert - nach Region, Geschlecht und Alter. Bei Menschen unter 45 erkrankt jeder 6667. (15 Fälle je 100000), bei Menschen über 75 ist es jede 77. Frau (1300 je 100000) und jeder 45. Mann (2200 auf 100000). Weshalb die Statistik Erkrankungsraten sowohl regional berechnet, als auch altersstandardisiert. Entsprechend waren im Diagnosezeitraum 96 bis 99 in einer Gemeinde wie Brück 57,1 Erkrankungen zu erwarten gewesen, pro Jahr etwa 14,3. Registriert wurden 68 Fälle, was einer tatsächlichen Ratenerhöhung von 19 Prozent entspricht. Diese Erhöhung, so Stabenow, sei statistisch nicht relevant. Ob eine Erhöhung signifikant ist, sei von der Fallzahl abhängig. Während zum Beispiel 680 zu 571 Fällen durchaus signifikant wären (ebenfalls 19 Prozent Erhöhung), seien es 68 Fälle zu 57,1 eben nicht: »Das sind statistische Gesetze, darüber ist nicht zu streiten.« Signifikant wäre lediglich, wenn ein und dieselbe Gemeinde in aufeinander folgenden Jahren immer wieder auffiele. Solche Gemeinden gebe es im Landkreis Mecklenburg-Vorpommern, wo auf Grund höheren Alkoholkonsums bei Männern öfter als normal Speiseröhrenkrebs auftritt. Auch große Städte wie Berlin kann Roland Stabenow anführen: Weil Frauen dort mehr als anderswo rauchen, erkranken sie öfter an Lungenkrebs. Doch nicht immer fänden sich bei signifikant erhöhten Raten so einfache Erklärungen. Dann seien weitere Studien nötig. Bei einer vermuteten Ursache müssten die Erkrankungen lokalisationsbezogen geprüft werden, da spezifische Krebs erregende Stoffe spezifische Krebsarten auslösen. In Brück jedoch sei auch die Verteilung der Krebslokalisationen normal, in keiner Weise auffällig.
Nun sind die Kollegen von BILD nicht deppert. Man sollte sie auch nicht schlampert nennen; sie bauen lediglich eine »Geschichte«. Und wer eine »Geschichte« baut, darf sie nicht zu Tode recherchieren. Das heißt, gesammelt wird nur das, was der »Geschichte« nützt, sie stützt. Was sie stört, wird ausgeblendet. Das hat seine Vorteile. Zum Beispiel ist eine gute »Geschichte« überzeugender als die beste Statistik. Statistik ist eine Wissenschaft und daher nicht unbedingt volkstümlich. Dennoch vermochte sie in den Tagen nach Erscheinen des BILD-Berichts die Brücker zu beruhigen. Zumindest jene, die gesund sind, und das ist die überragende Mehrzahl.
Landrat Lothar Koch (SPD): »Panik ist zum Glück nicht ausgebrochen. Die Anzahl der BILD-Leser hält sich in Grenzen. Die meisten lesen die "Märkische", und die hat die Diskussion sofort auf sachliche Grundlagen gestellt.« Koch, Landrat seit Endzeit der DDR, weiß: »In den NVA-Bunkern war nichts, was Krebs erregen könnte.« Damals hatten Bürger dort ein Atomwaffenlager vermutet, weshalb Koch mit besagtem Enders sämtliche Bunker besichtigte: »Noch einmal: Da war nichts, überhaupt nichts! Der Enders verhielt sich damals schon so korrekt, wie er sich heute als Bundeswehroffizier verhält, das muss mal akzeptiert werden.«
Auch Karl-Heinz Borgmann, Brücks Bürgermeister seit 1993, registrierte »keine besondere Angst in der normalen Bevölkerung«. Natürlich habe der BILD-Bericht die Leute erst mal aufgeschreckt, doch man habe besonnen reagiert und sich »noch mal kundig gemacht«. Schon weil klar ist, dass so ein Bericht »den Ort nicht attraktiver macht - nicht für Investoren, nicht für Menschen, die sich vielleicht bei uns ansiedeln möchten«. Obwohl die wirtschaftliche Entwicklung »nicht vorangeht, eher zurück«, habe Brück etwas zu bieten: 260 Kleinbetriebe, alle Erschließungsarbeiten - Gas, Wasser, Abwasser, Telekom - seien weitgehend abgeschlossen, und wer zur Arbeit nach Berlin will, brauche bis Zoo 45 Minuten... Borgmann hat in aller Eile noch mal NVA-Offiziere befragt: »Von deren Seite gibt es nichts. Dabei wären sie die Ersten, die betroffen sein müssten.«
Wie Borgmann ist auch Amtsärztin Johanna Aulich aktiv geworden. Von den Ängsten in Brück erfuhr sie nicht von den Ärzten, sondern durch einen Anruf des Amtsdirektors, nachdem der BILD gelesen hatte: »Ich habe nur noch hier gesessen und geschluckt, ich war erschüttert.« Aulich setzte sich daraufhin mit den Ärzten in Verbindung, die bei ihrer Beobachtung blieben. Der Hausarzt in Brück: »Wir warten noch auf genaue Statistiken, die müssen jetzt beschafft werden. Trotzdem haben wir den Eindruck, dass die Erkrankungen zunehmen. Das muss jetzt geklärt werden.« Die Ärzte informierten Aulich, dass Patienten als mögliche Ursache nicht nur die Bunker favorisieren, sondern auch einen Mobilfunkmast, eine ehemalige Tankstelle, ein Trafohäuschen, Asbestdächer, insektizidbehandelte Wälder, eine Unratverbrennungsanlage, die nahe Autobahn, Tschernobyl... »Wir werden das untersuchen«, sagt Aulich, »ich werde vom Umweltamt unterstützt.«
Wegen der Regionalstatistik wandte sich die Amtsärztin flugs an Dr. Karin Koch, Chefin der Strahlentherapie in der Ernst von Bergmann-Klinik und gleichzeitig Vorsitzende des Potsdamer Tumorzentrums, das ein eigenes Krebsregister für die Region Potsdam führt. Koch: »Wir arbeiten gerade dran. Wir gucken uns im Augenblick die Zahlen der letzten fünf Jahre an - bisher finden wir nichts Aufregendes.« Will heißen, die Art der Erkrankungen entspricht den statistischen Normwerten. An der Spitze bei Männern Prostatakrebs, analog bei Frauen Brustkrebs: »Das sind einfach die häufigsten Krebsarten.« Folgen Lungen-Bronchial- und Magen-Darm-Krebs, nur zwei Schilddrüsenkarzinome - »seltene Erkrankungen«. Ist also nur eine Ursache für die Brücker Krebsfälle unwahrscheinlich? »Bei einer Erkrankung«, so Dr. Koch, »spielen viele Faktoren zusammen. Etwas zu beweisen, ist schwerer, als etwas eindeutig auszuschließen.«
Das gilt auch für einen Verdacht. Man schürt ihn leichter, als man ihn ausräumt. Darauf basiert der Erfolg von BILD: Wer gefürchtet wird, hat Macht. Macht, für die Hans-Joachim Ziezow, leukämiekrank, dankbar ist. »Klar, BILD hat ziemlich zugespitzt. Doch wenn man es anders darstellt, reagieren die Stellen ja nicht, dann kehrt man die Sache unter den Tisch.« Ihn beruhigt Statistik nicht: »Man hat Krebs und stirbt an Lungenentzündung. Die steht dann auf dem Totenschein, das heißt, man geht in die Statistik überhaupt nicht als Krebskranker ein.«
Michaels sehen es ähnlich. Gerd Michael glaubt inzwischen nicht mehr, dass die NVA-Bunker die Krebserkrankungen auslösen. »Aber wer weiß denn, womit die heute auf dem Schießplatz rumballern? Und Fakt bleibt, dass von unseren Nachbarn mindestens zehn an Krebs leiden. Daran kann auch der Artikel in der "Märkischen" nichts ändern; der war nur ein Versuch, zu deckeln.«
Das Misstrauen der Krebskranken und ihrer Familien sitzt tief. Umso mehr, als Michaels hörten, dass man ihnen auf der Gemeinderatssitzung Entschädigungswünsche unterstellte. Was Unsinn ist: Gerd Michael hat Angst um die Frau, die er liebt und die seit drei Jahren gegen den Krebs kämpft. »Wir wollten, dass man der Sache nachgeht. Heute bekommt man Aufmerksamkeit nur noch, wenn man übertreibt.«
Das ist die schlichte, traurige Wahrheit: Nur, wer den Skandal inszeniert, ob auf der Bühne oder im Leben, hat eine Chance, beachtet zu werden. Jeder stirbt für sich allein - dagegen begehrten Michaels auf. Jetzt hoffen sie, dass in ihrem Ort Messungen vorgenommen werden. Amtsärztin Johanna Aulich wird gar nichts anderes übrig bleiben. Denn Ängste sind wie Krebsgeschwüre: Sie wuchern, wenn man sie nicht rausschneidet.
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