Das letzte Kapitel

Andreas Dresen: »Halt auf freier Strecke«

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.

Sterben ist eine einsame Arbeit, sagt Andreas Dresen, der gerade in Potsdam »Die Hochzeit des Figaro« inszeniert hat. Die komische Oper als Gegenprogramm zur Chronik eines angekündigten Todes, der kurzen Überlebensfrist, vom Wachstum eines Hirntumors bestimmt? Nein, denn auch bei Mozart spielen Liebe und Tod immer nach Regeln, deren letzter Sinn uns verborgen bleibt.

»Halt auf freier Strecke« zeigt uns, dass wir immer vergeblich versuchen, Antworten auf alle Fragen zu bekommen. Wir können nicht alle Regeln unserer Existenz selbst bestimmen - der Tod ist etwas, das sich unserem Verstehen entzieht. Nicht wir halten ihn in Händen, sondern er uns. Andere Zeiten, wie der Barock, haben das nicht nur gewusst, sondern dieses Schicksals-Bewusstsein bis hin zur artistischen Raffinesse kultiviert. Davon sind wir weit entfernt - unsere moderne aufgeklärte Kultur ist von einer Verdrängung des Todes bestimmt. Und doch ist er allgegenwärtig. In Rilkes Gedicht »Schlußstück« heißt es: »Der Tod ist groß. / Wir sind die Seinen / lachenden Munds. / Wenn wir uns mitten im Leben meinen, / wagt er zu weinen / mitten in uns.« Liebe und Tod wechseln hier immer wieder ihre Rollen.

Andreas Dresen unternimmt einen sehr dokumentarisch-sachlichen Versuch, das Sterben von Frank (der großartige Milan Peschel in der wohl extremsten Rolle seines Lebens) zu dokumentieren. Die Diagnose: Glioblastom, eine unheilbare, schnell zum Tode führende Form des Hirntumors. Man denkt dabei unweigerlich an Elias Canetti, der sich zum Todfeind des Todes erklärte, so, wie auch unsere ganze westliche Kultur, mitsamt ihrer hochgerüsteten Apparate-Medizin. Sterben lernen aber ist in ihr kein Thema. Das wäre das Gegenteil davon, ihn zu tabuisieren, aber auch ihn zu romantisieren oder zu dämonisieren. Besitzt er denn nicht seine eigene Würde? Dresen entdeckt in »Halt auf freier Strecke« sogar eine Form von Poesie, ja von Humor in ihm. Er ist ein Teil des Lebens - in seinem Verlauf für jeden Menschen unvorhersehbar, eine extreme Erfahrung, deren Brutalität nicht zuletzt darin liegt, dass wir mit ihr nichts mehr anfangen können. Der Tod vernichtet uns. Oder sollte man sagen dürfen, er hebt uns hinweg, verwandelt uns? Das wird jeder für sich herausfinden, wohl auch erleiden müssen. Bloße Erleichterungslügen für die Weiterlebenden jedoch scheinen angesichts der Größe des Ereignisses unangebracht.

»Halt auf freier Strecke« könnte in all seiner Vorhersehbarkeit - auch für Frank gibt es keine Wunderrettung - ein bitterer Film sein. Dass er es nicht ist, obwohl er schockierende Momente zeigt, macht die Bedeutsamkeit dieses Films aus, mit dem man ebenso wenig fertig wird wie mit dem Thema selbst. Dresen gewinnt dem Sterben auch in seinen grausamen Phasen eine wundersame Poesie ab. Kann das mit dem Tod als Ereignis versöhnen? Die Antwort auf diese Frage bleibt unaufhebbar verschmolzen mit der Art eines jeden Einzelnen, in der Welt zu sein. Sicher scheint: eine solche Versöhnung, wenn es sie denn geben sollte, führt über den Schmerz.

Die erste lange - ungeschnittene - Szene des Films zeigt Frank mit seiner Frau Simone im Zimmer des Arztes, der ihnen die Diagnose erläutert. Es ist ein Todesurteil, aber es zieht sich hin in der Erörterung der Details. In den Gesichtern von Milan Peschel und Steffi Kühnert malt sich jener Unglaube, wie wenn man eine Geschichte hört, die so unwahrscheinlich klingt, dass man sie mit einem Lachen oder einer Handbewegung abwehren möchte, aber es nicht kann, weil irgendetwas einen lähmt. Der Arzt spricht sehr ruhig über das Glioblastom, das in Franks Kopf wächst und das nicht operabel sei. In dieser Situation ist kein Platz für Emotionen - das Ehepaar blickt, erstarrt, nur vor sich hin. Was soll man da noch sagen oder den Arzt fragen? Frank hat eben gehört, was mit ihm geschehen wird. Und alles wegen ein paar Kopfschmerzen, die jeder mal hat. Simone aber ist soeben mitgeteilt worden, dass sie in wenigen Monaten allein sein wird, ohne Frank, mit den beiden Kindern in dem neu bezogenen - und längst nicht abbezahlten - Reihenhaus. Doch daran denken sie jetzt nicht, sie denken gar nichts, plötzlich von einer Nachricht getroffen, die ihnen der Arzt so wenig dramatisch wie möglich, aber in aller sachlichen Klarheit, eröffnet.

Was nun kommt, ist zweierlei: ein völlig veränderter Alltag für beide, der sich auf Franks rasch fortschreitende Krankheit einstellen muss, und der Versuch, das Ungeheuerliche zu verstehen: Frank stirbt. Er verliert mehr und mehr die Orientierung, sein Wesen verändert sich. Geist und Körper reduzieren sich in einem unberechenbaren Tempo. Ein ständiger Wechsel zwischen Dankbarkeit für Zuwendung und Auflehnung gegen sein Schicksal bestimmt nun die Tage. Er wird ungerecht, aggressiv, er hält sich selbst in diesem Zustand nicht aus und auch die anderen halten ihn - trotz des guten Willens - oft nicht aus.

Dresen thematisiert hier unaufdringlich das Thema des Sterbens zu Hause, in der eigenen Familie, in der Nähe von Frau und Kindern. Das ist ein Wunsch, den wohl jeder hat - aber wie schwer das doch für alle ist! Überforderung droht ständig. Dann zieht die Karawane der Sterbebegleiter durchs Haus - auch hier gibt es diejenigen, auf deren Gegenwart man besser verzichtet, und es gibt jene, deren Anwesenheit tatsächlich hilft, wie die der - auch im wirklichen Leben - Palliativärztin Petra Anwar. Sie sagt im Interview: »Unsere Krankenhäuser sind in ihrer Anonymität, ihrem Personalmangel etc. keine Orte für friedliches und würdevolles Sterben.« Die andere Seite: »Schlechte Ehen halten solche Belastungen zum Beispiel nicht aus. Besonders schlimm, auch für mich, ist immer, wenn Kinder betroffen sind. Da gibt es Grenzen; es ist jedes Mal eine konkrete Entscheidung, ob ein Sterben zu Hause geht oder ob die Voraussetzungen nicht stimmen. Dann suche ich einen Hospizplatz.«

Dresen inszeniert ein Kammerspiel, das den Tod nicht auf die große Bühne stellt, aber ihn auch nicht ins Hinterzimmer wegsperrt. Er hat mit Milan Peschel und Steffi Kühnert zwei Schauspieler, die sich in einer unerhört minimalistischen Eindringlichkeit in diese Extremsituation hineinbegeben und dabei immer einen Sinn nicht nur für die Verluste, sondern - so seltsam sich das anhört - für die kleinen Geschenke des Abschieds besitzen. Etwa, wenn Frank, der von der immer wieder aufsteigenden Panik des Sterben-Müssens überwältigt zu werden droht, beginnt, die vielen Werkzeug-Kästen zu beschriften - für die Zeit, da er nicht mehr da ist. Oder seine skurrilen Selbstgespräche mit seinem i-Phone: »Ich habe einen Hirntumor, das ist nicht lustig.« Dresen scheut hier auch vor einer aberwitzigen Zuspitzung nicht zurück, wenn er Thorsten Merten als personifizierten Hirntumor in der Late-Night-Show bei Harald Schmidt zeigt. Ist es nicht belastend, immer so böse sein zu müssen?

Wir sehen in einem eindringlichen Memento mori die wachsende Hilflosigkeit von Frank mit an, etwa wenn er beim Bäcker steht und nicht mehr weiß, was er kaufen wollte, oder wenn er die Toilette im eigenen Haus nicht mehr findet. Und doch geht er selbst zum Bestatter, sich die Särge anzuschauen und stellt die Musik für seine Beerdigung zusammen. Das ist eine Größe, die dem fortgesetzten Absterben abgetrotzt ist.

Dresen verengt mit Franks zunehmend enger werdendem Horizont auch den Kamerablickwinkel. Wir blicken vom Bett aus auf die winterlichen Felder vor dem Fenster jener neuen Wohnung, in der sich die Hoffnung auf eine Zukunft verkörperte, die es nun für Frank nicht geben wird. Das Frühjahr kommt ohne ihn.

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