Das Kreuz am Sautrog

Frisches Grün zum Totensonntag - an einer Harzer Landstraße dokumentiert jemand den Wahn von Krieg

  • René Heilig
  • Lesedauer: 6 Min.
Diesen Sonntag ist Totensonntag. Menschen richten Gräber ihrer Anverwandten her, decken sie mit Tannengrün. Friedhöfe sind ein Ort der Erinnerung, der Besinnung, sagt Pfarrer Oliver Meißner. Menschen denken an Menschen und über Menschen nach.
Menschlichkeit, Mahnung, Mitgefühl - im Harz werden 66 Jahre nach der Befreiung Soldatengräber gepflegt.
Menschlichkeit, Mahnung, Mitgefühl - im Harz werden 66 Jahre nach der Befreiung Soldatengräber gepflegt.

Wer weiß mehr über Menschen und deren Geschichte als der Pastor? Oliver Meißners evangelisch-lutherisches Pfarramt steht in Wienrode. Die Straße von Thale nach Blankenburg ist nahe. An der L 92 steht ein kleines schwarzes Holzkreuz. Es ist nicht eines von jener Art, das an jugendlichen Disko-Leichtsinn denken lässt.

»UBK Soldat« steht auf dem Kreuz. Grob gebrochene Steine umgrenzen die Stelle. Das Grab ist mit einer künstlichen Rose und frischen Stauden hergerichtet. Hier denkt offensichtlich jemand an jemanden. Doch der, den da drei Meter von der Chaussee im sogenannten Sautrog Erde und Gras decken, ist ein Unbekannter, gefallen vermutlich in jenen Apriltagen 1945, in denen der Harz zur Nazifestung erklärt wurde. Wer gedenkt des fremden Soldaten? Und warum?

Pfarrer Meißner kennt die Stelle, findet das Kreuz »interessant, denn es regt hoffentlich auch an, über den Irrwitz von Kriegen nachzudenken. Gerade jetzt, da die - obwohl mit deutscher Beteiligung - so weit von uns entfernt stattfinden, dass man sie und die eigene Verantwortung verdrängen kann.«

Meißner verspricht, bei der Suche nach dem Grabpfleger zu helfen, befragt Amtsbrüder, löchert Gemeindemitglieder. Meißner »kann gut« mit den Menschen im Ostharz. Obwohl er 2001 von »drüben« kam. Doch er kümmert sich - und fährt leidenschaftlich Trabant. »Die Menschen sollen hören, wenn der Pastor kommt, und alle sollen hinterher riechen, dass er da war.«

Die »falschen« Befreier?

Doch alle Verbundenheit mit seinen »Schäfchen« nutzt nichts. Er ist so erfolglos wie der Reporter, der Anwohner »löchert«, verschiedene Bürgermeister, Angestellte der Kreis- und Forstverwaltung, Verantwortliche des Volksbundes Kriegsgräberfürsorge, die Polizei, einen Steinmetz, Friedhofsverwalter, Heimathistoriker und Bestatter befragt. Nichts. Außer neuen Hinweisen auf weitere Gräber. Nicht immer sind sie so leicht zu finden wie die auf der Steige, die Probst Friedrich Köbel erwähnt. In der nahen Straßenmeisterei glaubt man sich zu erinnern, dass früher einmal ein ehemaliger Postbote aus Querfurt gekommen sei, um die Steige-Gräber zu pflegen.

»Seid dankbar für den Frieden«, hat jemand in eine Holzplatte geschnitzt. Wen meint er? Die toten Soldaten? Die Überlebenden? Es heißt, der Brettschneider sei im vergangenen Jahr verstorben. Er stammte wohl aus dem kleinen Neuwerk hinter Rübeland. Auch von dort zogen Soldaten aus, um Europa den Nazis Untertan zu machen. Über 40 von ihnen kehrten nicht heim. Sie sind vergraben in Belgien, Frankreich, Kroatien und vor allem in Gebieten der ehemaligen Sowjetunion.

Doch wer pflegt das Grab an der L 92? Es ist sicher niemand von der üblen Sorte, der im Höllenfeuer Verblutete zu Helden stilisieren will. Ein Spaziergänger, der frühmorgens seinen Hund über die nebligen Äcker schickt, erinnert sich an eine alte Frau. Im Winter komme sie sogar mit Skiern. »Vermutlich aus dem Bibelhaus«, das am nahen Ortseingang von Blankenburg steht, tippt er. Doch die Schwestern sagen, sie wüssten nichts von einer Grabpflege.

Keiner ist unter den Befragten, der nicht gerne wüsste, welcher Nachbar sich warum um das Grab an der Landstraße kümmert. Zumal es - so vermutet man beim Volksbund und bei der Friedhofsverwaltung - leer sein könnte. Das sei möglich, bestätigt Volker Schirmer. Der wohnt in Blankenburg, ist Diplomingenieur, Rentner und hat als Sportler beim Orientierungslauf schon so manches Soldatengrab entdeckt. Irgendwie hat ihn das Thema »Harzkessel« gepackt. Er berichtet, in den 70er Jahren war zwischen beiden deutschen Staaten ein Abkommen über die Bergung von Kriegstoten geschlossen worden. Die westdeutsche Kriegsgräberfürsorge zahlte dem Bezirk Magdeburg die Umbettungen auf normale Friedhöfe. »Doch alle haben sie sowieso nicht gefunden, und so pflegten Leute aus den Orten einfach weiter Gräber ihrer Soldaten.« Auch Schirmer pflegt eine Grabstelle. »Fünf oder sechs liegen da noch.« Er möchte nicht, dass man den Ort näher beschreibt. Zwar hat die Anzahl der Militaria-Narren, die sich als Grabplünderer betätigen, abgenommen, doch es gibt sie.

Nach der Wende machte sich Ingenieur Schirmer mit einem Tonbandgerät auf und ließ die Zeitzeugen des Grauens berichten. Gemeinsam mit einem Ko-Autor hat er die Berichte in einem Buch zusammengefasst. Als Mahnung, wie er sagt. Doch nicht alle, die sich erinnern, lassen erkennen, dass sie nur Verführte waren, die gelernt haben. Irgendwie mag sich so »Befreiung« nicht so recht darstellen. Schirmer selbst ersetzt den Begriff durch »Zusammenbruch« und »Kriegsende«. Erziehung zum Frieden - das war in der DDR durchaus richtig, doch in manchen ostdeutschen Gebieten gelang es nur ungenügend, die Befreiung von der Nazidiktatur emotional nachvollziehbar zu machen. »Hier waren eben«, so sagt Schirmer, »die falschen Befreier. Und außerdem hat der Ami allerlei angerichtet, was noch über Generationen für Entsetzen sorgen wird.« Wie dem auch sei, im Wohnzimmer des Mitglieds der Kriegsgräberfürsorge hängt ein alter Wehrmacht-Karabiner.

DDR duldete Gräber

Nicht einmal die Geschichte von Oberst Gustav Petri war zu DDR-Zeiten geeignet, um Patriotismus sozialistischer Prägung zu befördern. Der Wehrmachtoffizier hatte den Auftrag, Wernigerode bis zum letzten Haus zu verteidigen und Talsperren zu sprengen. Er verweigerte den Befehl mit Hinweis auf das baldige Kriegsende. Dafür wurde er mit sieben weiteren Wehrmachtangehörigen in der Nähe des Bahnhofs Drei-Annen-Hohne standrechtlich erschossen. So wie viele Deserteure, die unbekannt blieben. Zu DDR-Zeiten konzentrierten die Gedenk-Verantwortlichen Nazigrauen auf wenige Stätten, beispielsweise auf das KZ bei Nordhausen, in dem Sklaven aus halb Europa des Führers Wunderwaffen bauen mussten und elendig umkamen. Dabei hatte fast jeder Ort im Harz sein Lager, seinen Steinbruch, sein Bergwerk, in denen Häftlinge und Kriegsgefangene schuften mussten. Doch auch das gehört zur historischen Wahrheit: Niemand habe zu DDR-Zeiten versucht, die Soldatenkreuze, auf denen oft noch rostige Stahlhelme steckten, zu räumen, sagt Schirmer. Im Gegenteil, »Leute von den Grenztruppen und der NVA haben Wehrmachtgräber gepflegt. Beispielsweise beim Regenstein.«

Fotos für die Schwester

Unterhalb dieser alten Festung ist Unteroffizier Werner Kamischke gefallen. Am 21. April 1945, einen Tag nach Hitlers letztem Geburtstag. Irgendwann hat man das, was von dem jungen Mann aus der Division »Potsdam« übrig geblieben war, auf den Friedhof von Hüttenrode umgebettet. Doch sein ursprüngliches Grab im Wald von Heers wird weiter gepflegt. Von Horst Baczynski. Der wird demnächst 80 Jahre alt, hat Bäcker gelernt, war bei der DDR-Volkspolizei. Baczynski ist Jäger, erklärt den Zwergen vom Kindergarten gegenüber, was der Unterschied zwischen einer Amsel und einer Krähe ist, hilft, die Quartiere von Fledermäusen zu kartieren. So stieß er auf Kamischkes Grab, fragte beim Roten Kreuz nach, erfuhr von der Vermisstenanzeige der Mutter aus dem Jahre 1947, fand schließlich die Schwester des toten Soldaten. Baczynski mag zunächst nicht über seine Motive der doppelten Grabpflege reden und nicht darüber, dass er dumme Heldensprüche von Neonazis hat entfernen müssen. Dann berichtet er knapp: »Ich bin in Breslau, dem heutigen Wroclaw, geboren worden und war zwölf, als ich meinen Vater zum Zug brachte. Er musste als Soldat nach Russland. Dort ist er geblieben ... Ich hab' gezittert beim Fliegeralarm, floh aufs Land, sah Breslau im Schutt versinken, wurde aus meiner Heimat vertrieben. Reicht das?«

Jedes Jahr zum Geburtstag Kamischkes, zu dessen Sterbedatum und zum Totensonntag macht Horst Baczynski Fotos vom frisch gepflegten Grab des Unteroffiziers und schickt sie dessen Schwester.

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