Vom Besitzen einer Seele
Führt eine romantische Geisteshaltung in die politische Barbarei?
Am 9. November, jenem Tag, der in deutschen Geschichtsbüchern insbesondere die Reichspogromnacht 1938 und die Maueröffnung 1989 markiert, am 9. November 2011 veröffentlichte die »junge Welt« unter dem Titel »Ästhetische Abgründe« einen Essay der Literaturwissenschaftlerin Heidi Urbahn de Jauregui. Das Datum wird nicht zufällig gewählt sein. Es soll darauf hinweisen, dass die »Abgründe«, von denen die Rede ist, nicht allein künstlerische Fallgruben bezeichnen, sondern geradewegs in den Höllenschlund der deutschen Geschichte führen. Schlimmere Rückfälle aus der fragilen Zivilisation in die mörderische Barbarei als den Anfang des Naziterrors und das Ende der DDR - so wird es hier impliziert - hat es seit der Ablösung der Antike durch das Mittelalter nicht gegeben. Gegenstand des Essays ist seinem Untertitel nach »der romantische Dichter Kleist«.
Der Text indes beginnt, weil es nur exemplarisch um Kleist, tatsächlich aber um die vermeintlichen Gefahren einer jeden »romantischen Geistesart« geht, gar nicht mit dem Dichter der »Hermannsschlacht«, sondern mit Günter Kunert. Mit Kunerts »Pamphlet für K.« (1975) und seinem Hörspiel »Ein anderer K.« (1977) sei die Romantikerdebatte in der DDR eröffnet worden. Kunert hatte die Kleist geringschätzenden Herausgeber des »DDR-Lexikons deutschsprachiger Schriftsteller« (1972) der »Übernahme eines Kulturvokabulars« bezichtigt, »das aus der Welt des Faschismus stamme«. Urbahn de Jauregeui indessen lässt Georg Lukács die Faschismuskeule in umgekehrte Richtung schwingen. Lukács hatte in Kleist den Repräsentanten einer »antinapoleonischen Mischung von Reaktion und Dekadenz« erkannt, der den Nationalsozialisten ästhetisch und politisch Vorschub geleistet habe. Über Kunerts kurz nach seinen Kleist-Apologien vollzogene Übersiedlung in die BRD weiß die Autorin zu berichten: »Der so sensible Warner vor jedem Anflug von Faschismus machte sich dann 1979 davon in ein Deutschland, das 1945 auf die bekannte Weise mit dem Faschismus gebrochen hat - anders als sein bisheriges Land, das es sich leistete, alle ehemaligen Sympathisanten mit einer faschistischen Partei aus jeglichen Staatsämtern zu entfernen«.
Will heißen: Wer sich mit K. gemein macht (diesem oder jenem), hat den Schritt über die Klippe schon getan; sein Ziel ist der Abgrund. Wovor Kunert floh, diese Frage bleibt leider ungeklärt.
Nun, zwischen den Zeilen steht es ja doch. Folgt man der Autorin, kehrte K. den Gesetzen eines historischen Materialismus den Rücken, wandte sich ab von einem rational begründeten Geschichtsbild, das unabänderlich auf den gesellschaftlichen Fortschritt gerichtet ist. Über Kleist (und also wohl auch über Kunert) heißt es, dass er »keine Einsicht in den notwendigen Gang der gesellschaftlichen Entwicklung« besessen habe; von seiner »Geistesart«, dass sie »hinter neuen Erkenntnissen zurückbleibt«. K. habe beschlossen, »nur noch dem Gefühl zu vertrauen«, sei der »Meinung« gewesen, »der Mensch müsse dem Übergewicht des Verstandes entgegenwirken« und habe endlich gefolgert, dass »es auf Erden keine Wahrheit« gebe. Die 1970er Jahre, Zeit des Romantik-Revivals in der DDR, seien charakterisiert durch einen »westlichen Zug zum Wertepluralismus«, schreibt Urbahn de Jauregui und meint damit eine bis heute anhaltende Unverbindlichkeit der Meinungsäußerungen, vor deren unheilvollen Konsequenzen sie offenbar warnen will.
Um eine Traditionslinie von »der Geisteshaltung« der idealistischen romantischen Bewegungen des frühen 19. Jahrhunderts zu jener der politischen Ideologen der Nazizeit zu ziehen, müsste man sich nicht auf den Marxisten Lukács, könnte man sich ebenso gut auf Paul Tillich, Fritz Strich, Victor Klemperer, Isaiah Berlin oder Eric Voegelin beziehen. In Rüdiger Safranskis Buch »Romantik. Eine deutsche Affäre« lässt sich hierzu Grundlegendes erfahren. Die Autorin aber ruft nicht zufällig neben Lukács gerade jenen Mann auf den Plan, dem es zu verdanken ist, dass das in den Siebzigern aufkeimende Interesse von DDR-Dichtern (wie Kunert, Fühmann, de Bruyn, Hermlin, Gerhard und Christa Wolf) an den historischen Romantikern einen scharfen Widerspruch erfuhr: den »sozialistischen Klassiker« Peter Hacks.
Dafür, dass im Hinblick auf die Literaturgeschichte der DDR nicht von einer allgemeinen Hinwendung zur Romantik, sondern von einer Romantikdebatte gesprochen werden kann, ist dieser Solitär unter den DDR-Dichtern verantwortlich. Für ihn war das öffentliche Bekenntnis zur Romantik gleichbedeutend mit dem einsetzenden Niedergang des Staates, in welchem dieses »Virus« um sich greift. Bereits 1955 hatte Hacks einen Kunerts Route entgegengesetzten Weg eingeschlagen: Er kam aus München nach Ostberlin. Die 1940 in Remscheid gebürtige Heidi Urbahn de Jauregui, dies der Vollständigkeit halber, promovierte in Lyon über Hacks (1928-2003), mit dem sie seit den siebziger Jahren in persönlichem Kontakt stand.
Peter Hacks warf den Romantikern - den historischen der Vorzeit wie den Dissidenten seiner real-sozialistischen Gegenwart - (zuzüglich ihrer nach klassischen Maßgaben miserablen Kunst) ein Frondieren gegen die Herrschaft der Vernunft vor. In seinem nach der Wende zornig niedergeschriebenen, aber heiter zu lesenden Pamphlet »Zur Romantik« spitzt er zu: »Ihr Mißverhältnis zum gesellschaftlichen Gesamt verbietet der Fronde jede Objektivität und jeden Realismus außer einem Realismus der Intrige und der Tücke. Das ist, wofür wir die Romantik fürchten. Das erste Auftauchen der Romantik in einem Land ist wie Salpeter in einem Haus, Läuse auf einem Kind oder der Mantel von Heiner Müller am Garderobenhaken eines Vorzimmers.« Mit schlichteren Worten: Wo eine in Künstlerkostüme gewandete politische Kampfpartei sich vorgeblich den romantischen Sehnsüchten und Ängsten hingibt, finde objektiv die absichtsvoll reaktionäre Zersetzung eines fortschrittlichen Staatswesens statt.
Wie »reaktionär« waren die Romantik-Freunde der Siebziger? Wie »fortschrittlich« war die DDR?
Es findet sich in Urbahn de Jauregeuis Essay ein auf die BRD gemünzter Satz, der diese Fragen möglicherweise ungewollt beantwortet: »Je grausamer die Gesellschaft ist, desto eher ist das Seelische gefragt, hinter dem sich die Analyse der Zeit so gut verbergen lässt. Man geht nach innen, um sich dem Außen, der Gesellschaft, nicht mehr stellen zu müssen.« Wendet man ihn auf die gesellschaftliche Wirklichkeit der mittleren und späten DDR an, so könnte er das Romantisieren vieler dort arbeitender Künstler und deren allgemeinen Hang zum »Wertepluralismus« (statt zur einen verkündeten Wahrheit) erklären.
Die DDR, zu der er sich über deren Untergang hinaus vehement bekannte, als Vernunftstaat anzusehen, dürfte Hacks nicht immer so leicht gefallen sein wie nach deren Untergang. Sein Stück »Die Sorgen und die Macht« (1958/59) war unter Ulbrichts Intervention vom Spielplan des DT genommen worden. Dennoch schrieb Hacks schon 1982: »Wir Kinder des zwanzigsten Jahrhunderts hatten vielleicht gelegentlich ein wenig mehr mit dem Staat zu tun, als uns ganz recht war. Aber wir sollten darüber nicht vergessen, ein wie grauenvolles und beengendes Zusammenwirken von Zwängen das Verschwinden des Staates in der Gesellschaft bedeuten würde.« Wer wollte ihm heute, da der Markt die Geschicke der Welt ganz in seiner unsichtbaren Hand hält, widersprechen?
Im selben Essay »Über eine Goethesche Auskunft zu Fragen der Theaterarchitektur« bemerkte Peter Hacks etwas über die antinapoleonische Bewegung, das sich aus heutiger Perspektive in der Tat ohne weiteres auf die DDR-regimekritischen Befürworter eines dritten Weges übertragen ließe: »Der Kaiser unterlag, und die deutschen Bonapartisten erwarteten so viel Unerfreuliches für sich wie die Frondeure Angenehmes. Aber die Geschichte gibt ihren Kombattanten selten, was sie erwarten. […] Nicht enttäuscht werden eigentlich nur Kleist und Louis Ferdinand: sie sind geschickt genug, tot zu sein.«
»Geschickt genug, tot zu sein« - wer noch in der finalen Tat eines Selbstmörders nichts als Kalkül erkennen will, scheint, mit Verlaub, für die Beurteilung tatsächlicher menschlicher Angelegenheiten nicht sehr geeignet zu sein. Die fehlende emotionale Empathie des in Verstandesdingen einmalig klar- und weitsichtigen Peter Hacks beschrieb Urbahn de Jauregui in einem ihrer früheren Hacks-Essays eindrucksvoll: »Er war ratlos, wenn er keine rationale Erklärung finden konnte. So schrieb er seinem Freund im Februar 1990: ›Was mich an den Lakaien des Imperialismus wundert, ist, daß sie ohne Bezahlung dienen. Hat Bernstein je eine Villa geschenkt bekommen?‹« Hacks, den sonst nichts wunderte, wunderte das. Mitleiderregend für jeden, außer den grippe- und wohl auch geschichtskranken Hacks selbst, das Zitat aus einem Brief an Frau Urbahn de Jauregui, verfasst im Februar 1990: »Ich besitze keine Seele, und ich gestatte Keinem, meine Krankheiten seelische Ursprünge unterzuschieben.«
Aus Kleists Abkehr von Goethe und den Maßgaben der aufklärerischen Vernunft induziert Heidi Urbahn de Jauregeui: »Also erkennt der Romantiker die Ebene der Faktizität nicht an.« Dies aber ist ein Trugschluss. Was die Naturgesetze betrifft: Nach ihnen wird auch der romantischste Romantiker sich richten müssen, so wenig lieb ihm das sein mag. Wer etwa die Schwerkraft für überbewertet hält, leugnet ja noch längst nicht deren Wirksamkeit, die auch ihn, den Luftikus, am Boden hält. Interessanter wird es, wenn wir unter der »Ebene der Faktizität« gesellschaftliche Tatsachen verstehen. Die hier wirksamen »Gesetzmäßigkeiten« sind offenbar nicht so unveränderlich, wie manche Marxisten das annehmen. Denn solcherlei Fakten werden immer aufs Neue geschaffen. Tat-Sachen: Das Wort ist klüger als die Art, in der wir es gebrauchen; es zielt auf die intersubjektive Ebene des Handelns, also den immer in Bewegung befindlichen Austausch zwischen verschiedenen Menschen, mithin auf das Soziale. Wer darauf beharrt, dass auch die weniger erdenschwere Fantasie, das Träumen, die Sehnsucht und die Angst, das magische Denken und all das, was leider nur die Psycho-, nicht aber die Gesellschaftsanalyse als »das Unbewusste« bezeichnet, zum menschlichen Wesen gehören, der leugnet die »Ebene der Faktizität« keineswegs, vielmehr erweitert er sie. Denn nicht nur das analytische Denken, sondern auch das unbewusste Wirken seelischer Kräfte ist eine Bedingung alles gesellschaftlich Tatsächlichen. »Vernünftig« auf einer höheren Stufe wäre es, wenn die ehernen Rationalisten das endlich anerkennen würden. Aber schon die Existenz einer Seele muss einem dogmatischen Materialisten suspekt erscheinen; er will sie nicht wahr haben. Denn die Seele ist immateriell. So sehr man stets mit ihr rechnen muss, so wenig lässt sie sich sicher berechnen.
Bestünde die Welt nur aus wohlüberlegten Worten, wir wollten Hacks in allen Punkten rechtgeben. Wäre die Erde ein Denkgebäude, ihm würden wir ihre Einrichtung gern überlassen. Wo die makellose Idee aber auf unreine, unreife - mithin: auf lebendige - Menschen trifft, da wird sie im Namen der Menschheit zum Verächter von Menschen. Lukács' und Hacks' von Heidi Urbahn de Jauregui beschworenes »Wehret den Anfängen« evoziert allzu deutlich Mechanismen von Zensur und Verbannung, die sich niemand wünschen kann, der gegen den Rückschritt streitet. Wem die Kleistomanie des Jubiläumsjahrs 2011 auf die Nerven ging, der mag dafür gute Gründe haben. Überzeugend genug, ein Dichterwerk und -leben zu verdrängen, ist keiner davon.
Nicht die Romantik ist schuld am Faschismus. Nicht unter Heiner Müllers Mantel liegt die DDR begraben. Kleist, Hacks: keine Ideologen, sondern Dramatiker. Gespielt werden sollen sie, beide.
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