Die Blockade war wunderbar

Widersetzen-Sprecher Jens Magerl über Freiluftgefängnisse für Sitzblockierer und das Signal, das Körper auf Gleisen aussenden

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Widersetzen-Sprecher Jens Magerl über Freiluftgefängnisse für Sitzblockierer und das Signal, das Körper auf Gleisen aussenden.
ND: Viele Atomkraftgegner wurden mehrere Stunden unter freiem Himmel festgehalten. Wie war die Lage in diesem Freiluftgewahrsam?
Magerl: Viele Leute waren am Ende ihrer Kräfte. Sie haben 16 Stunden auf den Gleisen gesessen und waren ja auch vorher nicht zu Hause im Bett. Und dann wurden sie auf unbestimmte Zeit ohne richterlichen Beschluss in diesem Kaltluftgewahrsam festgehalten. Noch nach Stunden fehlten Isomatten und ausreichend warme Decken.

Die Polizei berief sich auf eine richterliche Anordnung für den „Freiluftgewahrsam". Die Leute werden einem Richter vorgeführt, sagte sie.
Das stimmt nicht. Der Richter war ja nicht vor Ort, sondern sitzt in Lüchow. Da wurden höchstens einzelne Atomkraftgegner nacheinander hingebracht. Laut Grundgesetz und nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts muss aber bei jeder Freiheitsentziehung „unverzüglich" ein Richter eingeschaltet werden. Nur er darf nach persönlicher Anhörung jedes Betroffenen darüber entscheiden, ob, wie lange und unter welchen Umständen diese Person weiter festgehalten werden darf. Deshalb war unsere klare Forderung: Wenn die Polizei das nicht hinkriegt, dann muss sie die Leute eben freilassen. Sie hat nicht das Recht, aufgrund einer schwammigen Gefahrenprognose die Menschen festzuhalten. Es kann nicht sein, dass die Polizeitaktik höher steht als Recht und Gesetz und körperliche Unversehrtheit. Wir haben dagegen schon beim letzten Mal geklagt. Eine Entscheidung steht noch aus. Nun wiederholte sich dieser Rechtsbruch erneut. Das ist ein Skandal.

Trotzdem müssten Sie eigentlich sehr zufrieden sein, dass sich wieder so viele Menschen an der Schienenblockade beteiligt haben.
Der Erfolg wurde durch diese Festnahmen überschattet, aber ja: Die Blockade war wunderbar. Gute Stimmung, bunt, friedlich, viele gute persönliche Kontakte, auch mit Polizisten, die gesagt haben: „Großartig, was ihr da macht."

Freundliche Worte für die Polizei?
Sie waren im Vergleich zum letzten Jahr deutlich mehr um Fingerspitzengefühl bemüht. Das rechnen wir der Polizei auch positiv an. Erst gegen Ende der Räumung wurden einzelne Beamte auch ruppig und wandten Schmerzgriffe an, um die Blockierer zu zwingen, die Schiene zu verlassen.

Welches Signal sollte von der Schienenblockade ausgehen?
Ich hoffe, dass die Leute sehen, dass der Atomkonflikt nicht gelöst ist. Die Politik darf sich nicht länger wegducken. Umweltminister Röttgen bietet keinen wirklichen Neuanfang an, sondern ein Weiter so im anderen Gewand. Die „weiße Landkarte", wie er behauptet, gibt es nicht. Denn noch wird weiter auf Gorleben als Endlager gesetzt. Und wir hoffen, dass mit unseren Aktionen auch die Aufmerksamkeit für all die Skandale, die im Zusammenhang mit den Castortransporten und Gorleben passieren, steigt. Wir legen den Finger in die Wunde - das haben wir mit unserem Körper auf den Gleisen getan.

Meinen Sie, es ist angekommen?
Ich denke schon. Die Anti-Atom-Bewegung hat mit ihren jahrelangen Protesten einen breiten Meinungswandel in Sachen Atomkraft herbeigeführt. Das Atomzeitalter ist am Ende.

Interview: Ines Wallrodt

Über 3000 Menschen haben von Sonnabend 15 Uhr bis Sonntagfrüh die Gleise kurz vor Dannenberg blockiert. 3 Uhr nachts begann die Räumung, acht Uhr morgens wurden die letzten weggetragen. Über 1000 Sitzblockierer kamen in „Freiluftgewahrsam", wie die Polizei die „Wagenburg" aus mehr als 100 Polizeifahrzeugen unter freiem Himmel nennt. Dort sollten sie bleiben, bis der Castor in Dannenberg ist, hieß es von der Polizei. Gegen Mittag hieß es dann, der Freiluftgewahrsam werde aufgelöst. Wer seine Personalien nennt, darf raus und bekommt einen Platzverweis. Der Rest sollte in Gewahrsam bleiben. Jens Magerl, 47, Sozialarbeiter und Psychotherapeut, hat die große Schienenblockade im Wendland mit organisiert.
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