»Das Grundrecht besteht nicht schrankenlos«
Margarete Mühl-Jäckel zur Gebets-Auseinandersetzung an einer Berliner Schule
nd: Die aufsehenerregende Klage des muslimischen Schülers Yunus M. aus Berlin, in der Schule rituelle Gebete verrichten zu dürfen, wurde vom Bundesverwaltungsgericht abgewiesen. Andererseits wurde sein Grundrecht auf Religionsausübung bestätigt. Sind das nicht zwei widersprüchliche Aussagen des Gerichts?
Mühl-Jäckel: Nein. Die grundsätzliche Problematik war, inwieweit sich der Kläger uneingeschränkt auf das Grundrecht der Religionsausübungsfreiheit berufen kann. Dabei ging es konkret um die Frage, die sich das Land Berlin gestellt hat: Ob bei der Religionsausübung in der Schule, gerade bei rituellen kultischen Handlungen, wie es das islamische rituelle Gebet darstellt, Grenzen anzunehmen sind. Das hat das Bundesverwaltungsgericht bejaht, und zwar weil es im vorliegenden Fall innerhalb der Schülerschaft zu erheblichen Störungen des Schulfriedens gekommen ist.
Nun heißt es, die Ausübung eines rituellen Mittagsgebets sei zulässig. Die Richter sagen, es komme auf die Umstände an. Auf welche Umstände genau kommt es denn an?
Gemeint ist die Störung des Schulfriedens. Wenn in einer Schule, in der die Schülerschaft heterogen zusammengesetzt ist und alle großen Weltreligionen vertreten sind, wenn es in so einer Situation zu Konflikten innerhalb der Schülerschaft kommt, dann ist das Grundrecht der Glaubensfreiheit einschränkbar. Und dies ist hier der Fall gewesen. Grundsätzlich jedoch ist die Glaubens- und Religionsausübungsfreiheit mit dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts bestätigt worden.
In der Schule soll es Streitigkeiten und Konflikte zwischen den verschiedenen religiösen Gruppen gegeben haben. Was ist vorgefallen?
Es gab Beleidigungen erheblichen Ausmaßes, Mobbing, Auseinandersetzungen zwischen liberal und fundamental eingestellten muslimischen Schülern. Es gab auch Beleidigungen von Schülern anderer Glaubensrichtungen, z. B. jüdischer und christlicher Schüler. Auch Schulabgänge von jüdischen Schülern waren zu verzeichnen. Daher gab es für die Schulleitung Anlass zu sagen: Bitte kein islamisches Ritualgebet auf dem Schulgelände.
Wie kam es zu den Beleidigungen und Abgängen von Schülern und Schülerinnen anderer Religionen?
Wie gesagt, die Schulleitung hat die erwähnten Auseinandersetzungen festgestellt. Es gab auch Verhaltenskontrollen: Hält man den Ramadan ein oder nicht? Wenn sich Schülergruppen bilden, die ihre Glaubenshaltung lautstark und vehement gegenüber Andersgläubigen oder anders eingestellten Schülern desselben Glaubens zum Thema machen, dann kann dies gerade unter noch minderjährigen Schülern zu Konflikten führen. So war es in der Schule des Klägers.
Warum zeigt das Gericht in diesem Fall eine so religionsfreundliche Haltung? Wäre angesichts dessen, was Sie schildern, nicht angebracht, dass eine Abwesenheit von Religionen an Schulen insgesamt befürwortet wird?
Artikel 4 des Grundgesetzes schützt die Religionsfreiheit. Aber dieses Grundrecht besteht nicht schrankenlos. Im Schulverhältnis gilt der Erziehungs- und Bildungsauftrag der Schule. Daraus kann sich und hat sich hier eine Schranke ergeben: Es muss zu einer konkreten Gefährdung des Schulfriedens gekommen sein, wenn eine Einschränkung der Religionsausübungsfreiheit ausgesprochen wird. Ihre Frage geht in eine rechtspolitische Richtung: Ob es angezeigt ist, auf einem verfassungsgemäßen Weg für Schulen zu einer generellen Regelung einer gewissen Einschränkung der Religionsausübungsfreiheit zu kommen. Darüber ist nicht entschieden worden.
Wo wären die Grenzen? Könnte nicht jede mögliche Religionsgemeinschaft oder Sekte eine freie Religionsausübung einfordern? Müssten dann nicht gleichberechtigt die Symbole anderer Sekten neben den Kruzifixen in den bayerischen Schulen aufgehängt werden? Oder gar keines?
Bei regelnden Eingriffen in die Religionsfreiheit muss immer auch der Gleichheitsgrundsatz berücksichtigt werden. Der Staat darf sich nicht auf die Seite einer Religion schlagen und eine Religion bevorzugen. Aber hier stand diese Frage nicht zur Entscheidung. Dass die Glaubens- und Religionsausübungsfreiheit zunächst einmal auch innerhalb der Schule zu gewährleisten ist, wird mit dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts deutlich.
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