EU setzt die Ukraine auf die lange Bank
Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens wird verschoben
Nicht nur über die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens zwischen der EU und der Ukraine, sondern auch über die inhaltlichen Schwerpunkte und die Verhandlungsebene des Kiewer Treffens wurde lange debattiert. Vor dem Hintergrund der politisch motivierten Prozesse gegen die ehemalige Regierungschefin Julia Timoschenko und andere Oppositionspolitiker in Kiew wollte die EU eine politische Aufwertung des Präsidenten Viktor Janukowitsch und seiner Regierung unbedingt vermeiden. Andererseits sollte die Annäherung der Ukraine an die EU nicht dauerhaft gestört werden. Deshalb wird das Treffen zwar auf präsidialer Ebene stattfinden, aber die fertiggestellten Abkommen über Assoziierung und Freihandel werden nicht unterzeichnet. Selbst eine Paraphierung der Vertragstexte - als Zeichen des Abschlusses der Verhandlungen - wurde auf später verschoben.
Ob und wann die Abkommen unterzeichnet und ratifiziert werden, macht die EU-Seite von »Fortschritten bei der Demokratisierung in der Ukraine«, einer »rechtsstaatlichen Überprüfung« des Urteils gegen Julia Timoschenko und der »Aufhebung des Verbots der politischen Betätigung« für die ehemalige Ministerpräsidentin und andere Oppositionspolitiker abhängig.
Jahrelang hatten Brüssel und Kiew über den Inhalt der Abkommen verhandelt. Auch während der Präsidentschaft Viktor Juschtschenkos und der Regierungszeit Julia Timoschenkos war man nicht zu einem Abschluss gekommen. Immer wieder wurde der Prozess durch politische Entwicklungen in der Ukraine und durch Krisen innerhalb der Union verzögert. Der eigentliche Hintergrund ist indes, dass in der EU - insbesondere auch in Deutschland - nach wie vor Zweifel an der Integrationsfähigkeit der Ukraine bestehen. Eine Mehrheit hält einen ukrainischen EU-Beitritt in absehbarer Zeit für ausgeschlossen. Brüssel ging es in den Verhandlungen folglich um die Sicherung des ukrainischen Absatzmarktes und um die vertragliche Verpflichtung Kiews, die »europäischen Grundwerte« - Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Menschenrechte, Meinungspluralismus - durchzusetzen. Um ihre dauerhafte »europäische Orientierung« zu beweisen, sollte sich die Ukraine von russischen Bündnismodellen wie dem Gemeinsamen Wirtschaftsraum oder der Eurasischen Union abgrenzen.
Der ukrainischen Führung ging es dagegen vorrangig um eine verbindliche Aufnahmezusage der EU, die Abschaffung der Visumspflicht, die Öffnung des EU-Markts für ukrainische Waren und Dienstleistungen und um einen erweiterten Zugang zu EU-Förder- und Investitionsmitteln. Gerade davon versprechen sich ukrainische Oligarchen zusätzliche Profitquellen, weshalb sie die »europäische Orientierung« fördern und in letzter Zeit immer stärker auf den Abschluss der Abkommen mit der EU drängen. Selbst Vertreter der Rüstungsindustrie und des Schwermaschinenbaus, die im Gefolge Einschränkungen ihrer Wirtschaftsbeziehungen zu Russland befürchten müssten, befürworten die »europäische Orientierung«, weil sie darin Garantien für ihre Selbstständigkeit und gegen einen Aufkauf durch russische Großkonzerne sehen.
Auch die Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung unterstützt den Kurs der Annäherung und einen künftigen Beitritt zur EU. Vor allem die jüngere Generation verspricht sich von der »Zugehörigkeit zu Europa« völlige Freizügigkeit im Reiseverkehr, uneingeschränkten Zugang zum europäischen Bildungs- und Arbeitsmarkt, bessere Entwicklungsperspektiven und höhere Einkommen. Besonders in der Westukraine sieht man in den Abkommen mit der EU zugleich einen Schutz vor der »neoimperialen Politik Moskaus«.
Sowohl die EU als auch die politischen Gegner von Präsident Janukowitsch in der Ukraine stehen damit vor einem Dilemma: Werden die ausgehandelten Verträge unterzeichnet, wäre der »Weg nach Europa« für die Ukraine endgültig frei und die ungeliebte Janukowitsch-Regierung könnte den politischen Erfolg an ihre Fahnen heften. Wird der Assoziierungsprozess dagegen vorläufig gestoppt, liefert man Janukowitsch angeblich einen Vorwand, die Ukraine in die »offenen Arme Russlands« zu drängen.
In der öffentlichen Diskussion überhöhen beide Seiten bewusst die Bedeutung der kommenden Schritte. Denn weder eine rasche Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens noch eine längere Verzögerung würde eine »endgültige« Entscheidung über die künftige politische und wirtschaftliche Orientierung der Ukraine vorwegnehmen. In jedem Fall werden die Beteiligten weiterhin nach Möglichkeiten suchen, ihre jeweiligen Positionen durchzusetzen. Die Europäische Union wird ihr wirtschaftliches und politisches Interesse an der Ukraine ebenso wenig aufgeben wie Russland. Auch jede ukrainische Führung muss künftig sowohl in europäischer Richtung als auch gegenüber Russland offen bleiben.
Die Paraphierung der Abkommen mit der EU wäre demnach zwar ein wichtiger Schritt in europäischer Richtung, aber keine endgültige Entscheidung über die künftige innere Entwicklung und die außenpolitische Orientierung der Ukraine. Auch wenn Brüssel vor Inkraftsetzung der Verträge an seiner Forderung nach grundsätzlichen Korrekturen im politischen System festhält, können Janukowitsch und seine Anhänger den faktischen Abschluss der Verhandlungen vor den Parlamentswahlen im kommenden Jahr als ihren Erfolg verbuchen.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.