Liberale mit Lieferschulden
Geplante Reform der Sozialen Pflegeversicherung blieb in Versprechungen und Ankündigungen stecken
Der Unmut bei allen Beteiligten ist groß: Nicht nur die Beschäftigten der Pflegebranche zeigen sich frustriert, auch private Betreiber sorgen sich um die fehlende langfristige Finanzierung der geforderten Dienstleistungen. Von Betroffenen und Angehörigen ganz zu schweigen. Termine zur Vorlage der Reformgrundlagen wurden ständig verschoben, sowohl vom früheren Gesundheitsminister Philipp Rösler als auch seinem Nachfolger Daniel Bahr, beide FDP.
Im Februar dieses Jahres hatte der ehemalige Gesundheitsminister Rösler die Angehörigen der Pflegebedürftigen als unterstützenswerte Gruppe entdeckt. Ihnen sollte fortan mit Erholungskuren dabei geholfen werden, ihre Arbeitskraft weiterhin so gut wie unentgeltlich für Pflegeleistungen zur Verfügung zu stellen. Den bis zu vier Millionen Pflegenden dürfte die kurze mediale Aufmerksamkeit bei ihrem Dienst, der häufig ein 24-Stunden-Job ist, nicht viel weiter geholfen haben. Die meisten von ihnen sind Frauen, und sie brauchen keine einmalige Entlastung, sondern eine generelle - die setzt aber voraus, dass Pflege grundsätzlich anders organisiert und umfassender finanziert wird. Statt eines solchen Ansatzes brachte die Regierung im Spätherbst ein neues Gesetz durch den Bundestag, das Gewerkschaften und Arbeitgeber in der Kritik einte. Nach dem Familienpflegezeitgesetz sollen Arbeitnehmer ihre Arbeitszeit für einen Pflegezeitraum von bis zu zwei Jahren halbieren können, dafür 75 Prozent Lohn erhalten. Arbeiten sie dann wieder Vollzeit, erhalten sie zunächst weiter den geringeren Lohn, bis ihr Lohnkonto wieder ausgeglichen ist. Den Unternehmen soll mittels zinsloser Darlehen die Vorfinanzierung für die Lohnleistungen erleichtert werden, für die sie zunächst keine Arbeitsleistung erhalten. DGB und BDA forderten an Stelle dieses Gesetzes die staatliche Förderung für die Angehörigenpflege als »gesamtgesellschaftliche Aufgabe«.
Außer der vagen Aussage, nunmehr gehe es im ersten Halbjahr 2012 los, gibt es noch immer keinen Plan. Vorschläge für den lange geforderten neuen, insbesondere die Demenzkranken besser berücksichtigenden Pflegebegriff liegen bereits seit 2009 auf dem Tisch, verlangen aber aus Expertensicht zusätzliche Leistungen und dafür eine deutliche Erweiterung der Finanzierungsbasis. Kurz vor Jahresende zog der bisherige Leiter des langjährigen Pflegebeirats, Jürgen Gohde, angesichts mangelnder Entschlossenheit im Gesundheitsministerium die Reißleine und trat zurück.
Nur eins ist bisher klar: Pflege wird teurer. Schwarz-Gelb will ab 2013 den Beitragssatz von 1,95 Prozent auf 2,05 Prozent heben. Nun existieren beträchtliche Rücklagen in den so gut wie lange nicht gefüllten Kassen auch der Pflegeversicherung. Von den 5,1 Milliarden Euro sind 2,7 Milliarden gesetzlich gebunden, der Rest stünde für Ausgabensteigerungen zur Verfügung. Bahr will an diese Reserve aber nicht heran. Experten meinen, dass bei einem erweiterten Pflegebegriff schon fünf Milliarden Euro zusätzlich nötig wären, der gegenwärtig freie Überschuss also sowieso nicht ausreichen würde.
Für die künftige Finanzierung gibt es mehrere Wege: mehr Steuergeld, die Einbeziehung bisher nicht Versicherungspflichtiger - oder mehr private Vorsorge. Aber selbst die Regierungskoalition hat sich mittlerweile vom Aufbau eines privaten Kapitalstockes, wie von der FDP gewünscht, abgewandt. Mehr Geld im System kann aber nicht alle Mängel beseitigen - neue Pflegekräfte gibt es dadurch noch lange nicht, diese müssen erst qualifiziert und nicht zuletzt motiviert werden. Beides sind Aufgaben, die nicht nur mehrere Jahre Vorlauf brauchen, sondern auch eine gesamtgesellschaftliche Diskussion erfordern.
Die vorgesehene steuerliche Förderung privater Pflegepolicen ab 2013 hilft nur denen, die überhaupt Steuern zahlen und Geld für eine derartige Ausgabe erübrigen können. Sie nutzt ausschließlich Gutverdienern und Versicherungsunternehmen und passt so als weiteres Element gut in die bekannte Klientelpolitik der FDP. Für den »Rest« der Bevölkerung bleiben die bekannten Zustände: Die gesetzliche Pflegeversicherung deckt nur einen Teil der anfallenden Kosten, führt also häufig in Sozialhilfe oder illegale Beschäftigung. Selbstbestimmte Pflege, die weiter am Leben teilhaben lässt, bleibt nach den bestehenden Konzepten weiter außen vor.
Familienpflegezeit
- 2,34 Millionen Menschen sind pflegebedürftig. 1,62 Millionen werden zu Hause versorgt. Davon erhielten 1,07 Millionen Pflegebedürftige ausschließlich Pflegegeld, sie werden allein von Angehörigen gepflegt
- Den Gehaltszuschuss in der Pflegephase können Unternehmen durch ein zinsloses Darlehen finanzieren.
- Der Bundesrat kritisiert die hohen Bürokratiekosten, die vor allem kleinen Firmen drohten.
- Einen Rechtsanspruch auf Familienpflegezeit gibt es nicht. Das kritisieren Sozialverbände und Opposition.
- Für den Fall, dass der Arbeitnehmer den Lohnvorschuss nach der Pflegezeit wegen Berufsunfähigkeit oder Tod nicht zurückzahlen kann, muss er eine Versicherung abschließen.
- Hat ein Beschäftigter in der Nachpflegephase zu wenig Geld, greift eine Härtefallregelung.
AFP/nd
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