Restriktivste Flüchtlingspolitik
Aufenthaltserlaubnisse werden in Niedersachsen nur verlängert, wenn die Flüchtlinge ihren Lebensunterhalt selbst tragen
Selbsttötungen, zerrissene Familien, Trauer, Angst: All dies könnte unter einer Bilanz niedersächsischer Flüchtlingspolitik für 2011 stehen. Schicksale von Frauen, Männern und Kindern belegen den Hardliner-Kurs, den Innenminister Uwe Schünemann (CDU) den Ausländerbehörden vorgibt. Deren Handeln werde auch 2012 zu Familiendramen führen, befürchtet der Flüchtlingsrat.
Der Flüchtlingsrat hat das neue Gesetz ins Visier genommen, das besagt: Aufenthaltserlaubnisse werden ab Januar 2012 nur verlängert, wenn die Flüchtlinge ihren Lebensunterhalt zu 100 Prozent selbst tragen. Die restriktivste Umsetzung dieser Bestimmung finde sich in Niedersachsen. Zwar wurde dort eine von Abschiebung bedrohte Roma-Familie, die nur 69 Prozent ihrer Lebenskosten aufbringen kann, für weitere sechs Monate geduldet, aber: Schünemann hat angekündigt, dass die Lebensunterhaltsregelung künftig »strikt angewendet« werde.
Dass es anders geht, zeigt ein Erlass des Landes Rheinland-Pfalz: Dort soll der Aufenthalt jeweils um zwei Jahre erlaubt werden, sofern sich die Flüchtlinge um Arbeit zur Sicherung des Lebensunterhalts bemüht haben. Und: Wenn die Betroffenen wegen Krankheit, Behinderung, Alter, Kindererziehung oder Pflegebedürftigkeit von Angehörigen dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen, kann die Verlängerung dennoch gewährt werden. Niedersachsen praktiziere dagegen eine »soziale Selektion nach dem Kriterium der Nützlichkeit«, rügt der Flüchtlingsrat.
Wie inhuman in Niedersachsen verfahren wird, bekräftigte der Geschäftsführer des Flüchtlingsrates, Kai Weber, jüngst auch gegenüber dem Norddeutschen Rundfunk. Er erinnerte an besonders schwerwiegende Fälle, unter anderem an die Familie Nguyen in Hoya. Vater, Mutter - seit 19 Jahren in Deutschland lebend - und zwei Kinder im Alter von sechs und neun Jahren wurden nach Vietnam abgeschoben. Nur die volljährige Tochter Ngoc Lan durfte bleiben. Das Geschehen löste eine Welle des Protestes aus. Innenminister Schünemann sah sich unter dem Druck der Öffentlichkeit in Zugzwang. Die Familie Nguyen darf nach Deutschland zurückkehren. Ein generelles Umdenken bedeutete diese Entscheidung nicht. So hat niedersächsische Flüchtlingspolitik im Februar die seit zehn Jahren in Deutschland beheimatete Familie Naso auseinandergerissen. Der Kreis Hildesheim verfügte, dass Vater und Sohn nach Syrien abgeschoben wurden (nd berichtete). Die Mutter durfte bleiben, ebenso die 19-jährige Tochter, weil sie Aussicht auf einen Ausbildungsplatz hat.
Hartherzigkeit lassen auch weitere Fälle vermuten, etwa der Tod des 40-jährigen Shambu Lama aus Gifhorn. Nach 15 Jahren in der Bundesrepublik sollte er nach Nepal abgeschoben werden. Zwar lebte er nicht mehr mit der Mutter seines zehn Monate alten Sohnes zusammen, pflegte aber mit Billigung der einstigen Partnerin zu dem Kind ständigen Kontakt. Das jedoch glaubte die Behörde nicht. In seiner Verzweiflung ließ sich Shambu Lama im März von einem Zug überfahren.
Den Freitod wählte auch Slawik C. Elf Jahre lang hatte er in Deutschland gelebt, im Juli 2011 stand die Abschiebung nach Armenien bevor, veranlasst vom Kreis Harburg. Dieser hatte sich aus Armenien bestätigen lassen, dass C. Bürger jenes Landes sei. Der 58-Jährige kam in Abschiebehaft. Dort erhängte er sich in seiner Zelle. Ein Verwaltungsgericht befand später: Die Haft war unrechtmäßig.
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