Döntjes eines roten Bildhauers
Die Lebensgeschichte von DDR-Künstler Walter Howard wurde aufgeschrieben - von einem gebürtigen Bayern
Darf ein sozialistischer Arbeiter die Hände in den Hosentaschen haben? Auf keinen Fall, meinte Hans Kies. Dem renommierten DDR-Bild- hauer war auf einer Berliner Kunstausstellung im Jahr 1960 eine Plastik ins Auge gefallen, die sein Kollege Walter Stats Howard eingereicht hatte. Sie zeigt einen gedrungenen Mann mit Quadratschädel, Schiebermütze, einem über die Hose quellenden Bäuchlein - sowie lässig in den Taschen versenkten Händen. Ihr Titel wies den Mann als »Polier« aus. Völlig unpassend, wetterte Kies. Das sagte er Howard auch. Der zischte ein unflätiges Wort - konnte sich aber dennoch nicht mehr sicher sein, ob sein Porträt, für das er einen von der Straße geholten Arbeiter hatte Modell stehen lassen, offiziellen Gefallen finden würde.
Erst ein Artikel im »Neuen Deutschland« verschaffte Howard Genugtuung. Dessen Rezensent stellte Plastiken vor, bei denen die »Suche nach Möglichkeiten, den sozialistischen Menschen darzustellen, bereits zu schönen Erfolgen geführt hat« - und empfahl »besonders« den Polier. Dieser wurde denn auch zu einem Liebling der V. Kunstausstellung von 1962. Den Artikel hob Howard, sonst alles andere als ein eitler Mensch, bis an sein Lebensende auf.
Die Geschichte um den allzu lässigen Vorarbeiter ist ein »Döntjes«. Mit diesem plattdeutschen Begriff werden in der Gegend um Oldenburg Anekdoten und Schnurren bezeichnet. Walter Howard, der als junger Schriftsetzer und erwachender »Radikalinski« in die norddeutsche Stadt gekommen war, dort 1931 in die KPD eintrat und sich später auch mit Feuereifer in die Bildhauerei stürzte, liebte Döntjes. Sie scheinen - neben seinen Köpfen und Skulpturen in Stein, Bronze oder Gips, die Arbeiter und alte Liebespaare, die Klassiker des Kommunismus, aber auch Nonnen und Sterngucker darstellen - seine zweite Leidenschaft gewesen zu sein. Döntjes erzählte er immer - ganz gleich, ob ihm ein neuer Bekannter, ein Künstlerkollege oder ein Mitarbeiter der Staatssicherheit gegenübersaß.
Stoff genug für unzählige Döntjes gab es in Howards langem Leben: Anekdoten dazu, wie der Neunjährige mit dem merkwürdigen zweiten Vornamen sein Bein verlor und dank eisernen Willens trotzdem hüpfend Milchkannen transportierte; Berichte darüber, wie er, vom Vater quasi verstoßen, in einer Klosterschule in Berlin Berge von Kartoffeln schälen musste, aber dank eines Betreuers auch zu seinem späteren Beruf als Setzer fand; Episoden über einen schlecht versteckten Koffer voller Bücher von Marx und Engels, der ihn im NS-Gefängnis landen ließ, oder aus dem Frühjahr 1945, als sich Howard weniger um die Bombenschäden in Oldenburg sorgte als um die Fertigstellung einer Porträtbüste.
Das Künstlerdasein von Walter Howard, der später zeitweilig zu den zwei Dutzend führenden Bildhauern in der DDR zählen sollte, hatte da gerade erst begonnen. Auch diese Jahre sind eine fast unerschöpfliche Fundgrube für Schnurren - etwa die vom ersten Doppelbildnis von Karl Marx und Friedrich Engels in der DDR. Howard, der einen Wettbewerb gegen Fritz Cremer, Waldemar Grzimek und Gustav Seitz gewonnen hatte, sollte es erschaffen. Doch der Entwurf für das 2,50 Meter hohe Werk habe ihm »fast den Hals gebrochen«, erzählt Howard. 30 Zentner Ton waren um ein schweres Stahlgerüst geformt; als Engels Beinstellung korrigiert werden sollte, drohten sie umzustürzen. Nur dem eifrigen und stabilisierenden nächtlichen Einsatz seiner Ehefrau verdankten Howard und die DDR damals die Rettung der beiden Klassiker.
Anekdoten wie diese werden oft und gern weitererzählt; sie schaffen es, wenn ihr Protagonist eine gewisse Bekanntheit genießt, sogar in Zeitungsspalten. Mit nachlassendem Ruhm aber verblassen auch die Schnurren, und wenn das Leben ihres Helden zu Ende geht, werden sie höchstens bei Familienfeiern weitergereicht. Oft ist das höchst bedauerlich; schließlich lassen derlei Episoden nicht nur das facettenreiche Bild eines Menschen entstehen, sondern auch der Zeiten, die er erlebt hat. Im Fall von Walter Howard stammen die Döntjes immerhin aus fast einem Jahrhundert: Der Bildhauer wurde 1910 geboren und starb 2005. Die Chancen stehen allerdings gut, dass sie nicht ganz vergessen werden: Kürzlich sind sie in Buchform erschienen.
Wie es dazu kam - das hat ebenfalls das Zeug für ein Döntjes. Im Frühjahr 1991 erkundete die Frau von Burkhard Zscheischler, eines aus Bayern nach Sachsen gezogenen Journalisten, ihren neuen Wohnort Radebeul und traf Howard, der zur Miete im »Jägerhof«, einem früheren Lokal, wohnte. Sie brauchte offenbar wenig Überredungskunst, um auch ihren Mann zum Treffen zu bewegen. Ein Mann, der leidenschaftlich gern Geschichten erzählt, und einer, der begeistert die Geschichten anderer zu Papier bringt, hatten sich »gefunden«. Dieses Wort nutzte Howard, als er die Begegnung umgehend in einem seiner akribisch geführten Kalender vermerkte.
Dass aus dem zufälligen Treffen freilich eine beständige Freundschaft entstehen würde, war nicht zwingend; dass Zschei- schler derjenige sein würde, der die Lebensgeschichte Howards aufschreibt, lag noch viel weniger nahe. Zwar teilen beide den Hang zum Döntjes. Doch während Howard sich als »bildhauernder Kommunist« bezeichnete und aus seiner Ansicht bis zum Schluss kein Hehl machte, erklärt Zschei- schler, ein Linker sei er »sicher nicht«. Außerdem reiste der Sohn eines ausgewanderten Dresdners zwar als Jugendlicher in den Ferien oft von Freising ins sächsische Elbtal. Doch sein bayerischer Akzent ist unverkennbar.
Bei seinen weiterführenden Recherchen für das Buch stieß Zscheischler denn auch auf viel Skepsis. Ausgerechnet ein Bayer sollte die Wechselfälle eines Lebens in der DDR beschreiben können? Ein Mann, der zwar eher ein Grüner als ein Schwarzer zu sein scheint, aber dennoch aus dem Journalismus als Sprecher in zwei Ministerien in Sachsens CDU-Regierung wechselte, sollte die Biografie eines Mannes schreiben, der einige Ämter im DDR-Kunstbetrieb innehatte und dem mancher heute das Etikett »Staatskünstler« anheften würde? Die Reaktion auf seine Anfragen sei oft deutlich gewesen, sagt Zscheischler: »Lassen Sie mal. Das verstehen Sie nicht.«
Zscheischler allerdings ließ nicht locker. Er wälzte Unterlagen, die ihm die Familie in Kartons übergeben hatte, er fuhr nach Oldenburg und Berlin, um an früheren Lebensorten Howards zu recherchieren - und er überzeugte etliche Skeptiker, doch mit ihm über ihren früheren Künstler- oder Dresdner Hochschulkollegen zu sprechen. Dass sein Vorhaben zwischenzeitlich ins Stocken geriet, lag eher an einem Wunsch Howards. Der hätte sein Leben gern als eine Art künstlerisch verfremdeten Bildungsroman aufgeschrieben gesehen. Das sei ihm eine Nummer zu groß gewesen, gesteht Zscheischler, der sich schließlich entschloss, das in den Mittelpunkt zu stellen, was ihn an Howard faszinierte: die Döntjes.
Eine bloße Anekdotensammlung freilich ist das Buch nicht geworden - trotz langer Passagen, in denen Howard ungebremst plaudert. Vielmehr werden dessen Geschichtchen ergänzt durch Geschichte; es wird eingeordnet, ergänzt und erklärt. Das gilt auch für Kapitel, die Howard zu Lebzeiten nicht mehr erzählte oder erzählen wollte. Zscheischler stieß bei seinen Recherchen auf die 150 Seiten dicke Stasi-Akte eines »Gesellschaftlichen Mitarbeiters Sicherheit« mit dem Namen »Bildhauer« von 1959. Er sei »erschrocken« über den Fund, sagt der Autor; allerdings ließ er sich nicht abschrecken. Zscheischler suchte keine Entschuldigungen, enthielt sich aber auch harscher Urteile. Howard, heißt es im Buch, habe wohl geglaubt, »die Treffen mit dem MfS-Mitarbeiter dazu nutzen zu können, positiv zu wirken«. Ihm gegenüber, sagt Zscheischler, habe Howard zum Stichwort Stasi nur über deren penetrante Neugier hinsichtlich eines Radebeuler Nachbarn geklagt und ergänzt, er beginne am Wesen der Behörde zu zweifeln. »Wenn er diese Zweifel doch schon 1959 entwickelt hätte«, lautet Zcheischlers lakonischer Kommentar.
Im Buch wird die Akte zum »Döntjes« - neben den plastischen Akten und den anderen Figuren, die Howard eigentlich wichtig waren. So wichtig, dass er Angebote, sich in Kommissionen und Gremien stärker politisch einbinden zu lassen, vom Tisch wischte. Howard war mit Leib und Seele Bildhauer und dabei ein Arbeiter eher als ein Künstler: »Den Begriff wollte er auf sich nicht angewendet wissen«, sagt Zscheischler. Einer, der »berserkerhaft« schuf, wie es im Buch heißt. Viele der Plastiken, die im Atelier von Walter Stats Howard entstanden, sind heute in Depots und Sammlungen verschwunden. Ein Opfer von »Bilderstürmern« wurde er allerdings nicht. Zwei seiner Porträts von Hermann Duncker stehen nach wie vor in Rostock und Berlin-Karlshorst. Und auch die beiden Klassiker, die Howard in den 1950ern fast den Hals brachen, sind noch immer zu sehen - im früheren Karl-Marx-Stadt, dem heutigen Chemnitz, in einem Park beim Schauspielhaus. Die Hände in den Taschen haben übrigens weder Marx noch Engels.
Burkhard Zscheischler: »Stats, mein Freund Walter«. Notschriften Verlag Radebeul, 320 S., 14,90 €. (zu beziehen u.a. über den Verlag: www.notschriften.de)
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