Wanderer in enger Welt
Im Kino: »Faust« von Alexander Sokurow
Vom »Rumoren der verschluckten Welt« spricht Alexander Kluge, wenn er als Geschichtenerzähler in die Geschichte schaut. Das Rumoren entdeckt sich beim Aufriss all jener Kälte- und Giftströme, die ihre Bahnen durch Welt und Zeit suchen.
So einen Rumor hat auch der Russe Alexander Sokurow. Er verfilmte, frei nach Goethe, den »Faust«, mit vorwiegend deutschsprachigen Schauspielern. Die Augen dieses Films schauen ihr Publikum fiebernd an. Oder sie schauen es gar nicht an. Der Blick dieses Films verstört, er schaut am Zuschauer vorbei; der Film ist ein stolzer Autist, er gräbt seine Bilder aus dem Unterbewusstsein; die Texte sind knapp, wie Wortbrocken, die brüllend, peitschend, dunkel klackend von einem Felsen fallen, dessen Gipfel im Dunst bleibt. Denk mich nicht, rät der Film dem Zuschauenden, nimm mich hin, gib mir nach, meinen Bildern.
Sokurow weigert sich, Sinn zu kasernieren, auf dass wir beruhigt und sicher davorstehen könnten. Sokurow malt, er rückt dabei alles, was sichtbar wird, ins Finstere. Haut und Fleisch fließen weg ins Gespenstische. Schön ist, was beweint werden kann - hier reißen sich Augen auf aus Angst und Schrecken und bettelarmer Idiotie. Ein mittelalterliches Sittenbild. Die Mitte schief, das Alter zeitlos wie der Tod, die Sitte ein Stinken unter Röcken, das Bild zeigt Farben, die ausgesaugt werden von Blässe.
Das über zweistündige Werk offenbart mit Faust einen Menschen, der in Eingeweiden der Toten nach der Seele sucht, der sich tastend umschaut in jener kleinsten Welt, die mit all ihren Wänden und Mauern gegen die Menschen vorzurücken scheint. Dieser Faust strebt nicht, er sondiert mit diffuser Abwartehaltung. Er geht durch alle und alles hindurch. Er ist kein Streber, nur ein Wanderer. Er geht durch die Zeit, so wie durchs Fleisch ein Messer geht, das nichts von jener Hand weiß, von der es geführt wird. Denn auch Mephisto führt nicht wirklich, der heißt hier Mauritius Müller, und Anton Adassinsky gibt ihn als körperlich unförmigen, ekelerregenden Kobold im Biedermeierwams - eine Art verfetteter Fritz Rasp, dem Faktotum der Wallace-Filme. Am Ende ist der Teufel ein von Faust Erschlagener.
Georg Friedrich, in schleimig-öligem Wien-Sound, spielt einen sklavisch verzückten Wagner; von glibbriger Anziehungskraft, wenn die Flasche mit dem Zuchtwesen Homunculus auf der Erde zerschellt und Wagner dies blutige, verkümmerte, schnappende Embryo des »neuen Menschen« weinend ins Ende eines Lebens hineinstreichelt, das doch nie stattfand. Eine Idee krepiert, und der Schöpfer weint wohl so, wie er sich Gott wünschte beim Blick auf den leidenden Menschen.
Goethes Handlung liefert nur Ansätze, wie Nebelschwaden - ein paar Dinge der Tragödie tauchen auf, verschwinden wieder, nur willkürlich die Reihen- und Rangfolge von Gestalten; alles bloß Zulieferung für eine Atmosphäre zwischen kleinbürgerlicher Betulichkeit und zombievoller Drohkulisse.
Johannes Zeilers Faust hat eine lauernde Schwammigkeit im Gesicht, die falsche Harmlosigkeiten ausstrahlt. Er berührt Gretchen (Isolda Dychauk) nicht wirklich, einmal lässt er sich im Traumbild mit ihr in einen See fallen, beide gehen unter, und zwei Gesichter bleiben, die zwischen Todesangst und Todessehnsucht keinen Unterschied wissen. Geht es ans Erwachen, ist die Welt nur wieder Leprakrankenblick, Krüppel-Stieren, Lemurentanz, sogar gestorbene Soldaten greifen nach diesem Faust.
Diesem Professor ist ständig nach Abstoßung zumute, nach dringender Bewegung. Er muss sich in die eigenen Schritte stürzen, um von irgendwo, wo es nicht auszuhalten ist, sich irgendwohin zu drängen, wo es auszuhalten wäre. Es gibt Grundwörter für diesen Drang: von Finsternis zum Feuer, von Verlorenheit zu Befindlichkeit, von Not zu Schmiegung, von Dämmerung zu Zeichen, von Leere zu Liebe. Aber alles hineingestellt in jene skizzierte Welt, die doch in so bedrückend krassem Widerspruch zu jeder freien Bewegung steht: In Übermaß herrscht hier die Enge, die Menschen stehen, wälzen sich in ständigen Gegenströmen und schreiender Klumpenbildung durch Gassen, durch Kneipenmief. Aus diesen Fleischballungen riecht und staubt und fault die Zeit.
Faust ist ein Stolpernder durch Dreck und Druck dieses Dumpfen, das einer ganzen Epoche die Atemluft zuteilt. Die Bilder scheinen sich zu wölben, verzerren sich, als blickte ein seltsames Tierauge auf diese Szenerie. Am Ende, jenseits der bedrückenden kleinen Welt, wirft sich Faust in die Befreiung, wirft sich in offenste Landschaft - ein Aufschrei der Lust, der für Sekunden vergessen lässt, dass dieser Faust doch nur mit leichtem Hemd in eine eisblaue Gletscherlandschaft hineinrennt. So rennt man in einen Wahn hinein, von dem man noch nicht weiß, dass er tötet.
Sollte Faust diese Feindgegend doch überstehen, wird er wohl selber Wahn sein, so vielleicht, wie Sokurow bereits Hitler und Lenin und den japanischen Kaiser Hirohito zu grausigen Dämonen der Machtsucht erhob - einer Gier, welche die Genannten auf jenen Moment der Verdammnis zutrieb, der sie leider unsterblich machte.
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